Merry Christmas
Von Hubert Keßler
Merry Christmas
Überrascht von dem, was in solchen Umständen möglich ist.
Folgt man im Film „Merry Christmas“, der die Verbrüderung an der Front zwischen Franzosen, Deutschen und Schotten im
ersten Weltkrieg thematisiert, den Gesichtern der Soldaten, so steht man immer wieder vor erstaunten, weit aufgerissenen
Augen. Man traut seinen Augen nicht, was da an Weihnachten in den Schützengräben und in dem dazwischen liegenden
Niemandsland passiert. Weihnachtsbäume säumen den Rand der Deutschen, die verantwortlichen Leutnants treffen sich auf
einen Kaffee im Niemandsland, Soldaten tauschen Wein und Schokolade…. Und das in der Absurdität des
Schützengrabenkrieges, bei dem tausende von Menschen ein paar Meter Bodengewinns wegen, ihr Leben lassen mussten. Die
Absurdität eines solchen Krieges bildet den verstär-kenden Kontrast zu dem, was sich an Wesentlichem und Bleibenden
ereignet. Niemand von den Menschen, die diese Verbrüderung erlebt haben, wird es vergessen können.
Und für jemandem wie dem französischen General, dem Vater des französischen Leutnant Audebert bleibt es unverständlich.
„Ist dir nicht klar, wie schwerwiegend dieser Vorfall ist?! … Das nennt man Hochverrat! Darauf steht Todesstrafe“ hält
er seinem Sohn vor.. „Du kannst es nicht verstehen“. Das Unvorstellbare gipfelte in der gemeinsamen Messe im
Niemandsland. „Diese Männer sind heute Nacht von dem Altar angezogen worden, wie von einem Feuer mitten im Winter!
Selbst diejenigen, die nicht gläubig sind, sind gekommen und haben sich gewärmt! Vielleicht nur, um zusammen zu sein.
Vielleicht nur, um den Krieg zu vergessen!“, so Palmer ein anglikanischer Priester, der seine schönste und bewegendste
Messe an Weihnachten 1914 hält. In der Ödnis des Niemandslandes blühte Menschlichkeit. „Meine Soldaten werden die
Leichen der Männer einsammeln, die letzte Woche gefallen sind…. Damit Sie sie begraben können!“ (Horstmayer) ,… Und
wir werden Ihnen die Überreste Ihrer Männer übergeben…die im November auf unserer Frontlinie gefallen sind.“ (Audebert)
„Das ergibt Sinn! … Die Toten an Christi Geburt zu begraben.“ (Gordon)
Die Gegner haben plötzlich einen Namen und ein Gesicht. Sind Menschen wie wir, Familienväter, verheiratet…. Hier findet
der religiöse Sinn des Menschen, das Bedürfnis des Menschen nach Erlösung, die Antwort im Glauben. Auch wenn dieses ein
historisch vielfach belegtes Faktum ist, an vielen Frontabschnitten im ersten Weltkrieg geschah genau dieses, bleibt es
ein absolut freies Geschehen. Es kann, muss aber nicht geschehen. Es geht immer durch die Freiheit der Person. Das zeigt
uns der Regisseur durch die Figur des Steven Robertson. Der schottische Soldat zog als besonnener Mann an der Seite
seines Bruders in den Krieg. Als dieser stirbt, wird er von Trauer und Verbitterung übermannt. Er erlebt in keinster
Weise Verbrüderung. „Ich habe ihn im Stich gelassen! Wie ein Feigling! Ich habe ihn verlassen!! Ich habe ihn sterben
lassen! Ganz allein!“ Er wird zu demjenigen, der am Ende des Filmes der erste ist, der auf Befehl den vermeintlich
deutschen Soldaten erschießt.
Dieses Jahr jährte sich zum hundertsten Mal der Beginn des ersten Weltkrieges. Und dieser Film konfrontiert uns mit der
Frage, was kann der Einzelne tun in einem Kontext, wo man Befehl und Order ausgeliefert ist. Was kann man innerhalb
einer Absurdität tun, die darin gipfelt, dass der General am Ende den Befehl bekommt, den „Kater Felix als Kollaborateur
zu verhaften“.
Darauf gibt der Film durch die Musik hindurch eine Antwort. „Ich muss zurück an die Front“, sagt der Tenor Nikolaus
Sprink seiner Freundin Anna Sörensen, „um für die Soldaten zu singen“. Zuvor hatte er mit Mühe vor dem Kronprinzen
gesungen. „Gratuliere jedenfalls zu Ihrer Initiative, gnädiges Fräulein! Wer anders als eine Frau konnte uns daran
erinnern, dass auch in Kriegszeiten Weihnachten ist. Dank Ihnen und Ihren Stimmen werden wir uns heute Abend wie in
Berlin fühlen! Wohin ich so schnell als möglich zurückkehren möcht.“, so der Kronprinz Wilhelm von Preußen. Er ist den
´Schönen Künsten` sehr zugetan und ermöglicht Anna Sörensen, ihren Geliebten an der Front zu besuchen. Zugleich
kontrastiert der Regisseur Christian Carion zwei Arten des Musikerlebens. Man könnte auch sagen, zwei Arten, vor der
Wirklichkeit zu stehen. Der Kronprinz zerschmilzt geradezu in seiner ästhetischen Reduktion der Musik. Er nimmt sie
gefühlsmäßig auf und es bleibt das bloße Vergnügen am emotionalen Widerhall. Ganz anders die Soldaten an der Front. Die
„Stille Nacht“ und das „Adeste“ (…kommt lasset uns anbeten…) wird zur Antwort auf ihre Situation, ihre Fragen und ihren
Schmerz. Die Suche nach einem Sinn in dem Unsinn an der Front, die Dringlichkeit und der Anspruch auf einen solchen
werden wirklich zum Schauspiel des Schönen. Hier sieht man, es ist nicht die Musik, die rettet, es ist DER, der in der
Musik besungen wird und durch die Musik hindurch die Herzen der Menschen berührt. Herzen, die nun bereit waren, sich vom
Eigentlichen berühren zu lassen.
Vielleicht waren einige Soldaten dieser Frontabschnitte unter denen. Die sich am Nachmittag des 1. August 1914 vor dem
Berliner Schloss versammelt hatten, um gespannt den Ablauf des deutschen Ultimatums an Russland mitzuerleben. Als um 17
Uhr ein Offizier am Schlosstor erschien war und die Mobilmachung verkündet hatte, wurde von der versammelten Masse der
Choral “Nun danket alle Gott” gesungen. Das sogenannte „August-Erlebnis" einte die Nation, machte Klassengegensätze und
soziale Spannungen vergessen, sagte man. Hier an der Front haben sie ein ganz anderes Erlebnis gemacht. Zumindest
einige: die Begegnung mit dem Auferstandenen, der den Menschen ändern kann und Feinde zu Freunde machen kann. Es war der
Gott, der durch das Kreuz die Erlösung brachte und nicht die Begegnung mit dem Gott der Nation.
Was kann man als Einzelner also tun? An dem Ort, an dem man lebt, das Zeugnis für IHN geben. Seine Menschlichkeit nicht
reduzieren lassen, sei es auf ein persönliches ästhetisches Gefühl oder auf das fremdbestimmte nationalistische
Nachgeplapper (das Geplapper der Welt) , wie es im Film der anglikanische Bischof tut. Merry Christmas
Hubert Keßler
Unten:
Deutsche Fassung von Adeste
Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubel-lieder
Und kommet, o kommet nach Betlehem.
Christus der Heiland stieg zu uns hernie-der.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.
O sehet, die Hirten, eilen von den Herden
Und suchen das Kind nach Engels Wort;
Gehn wir mit ihnen, Friede soll uns wer-den.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.
Kommt, singet dem Herren, singt, ihr En-gelchöre.
Frohlocket, frohlocket, ihr Seligen.
Himmel und Erde bringen Gott die Ehre.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.
Der Abglanz des Vaters, Herr der Herren alle,
Ist heute erschienen in unserm Fleisch;
Gott ist geboren als ein Kind im Stalle.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.