2019 Zusammenhalt im Pluralismus - Facetten einer Kultur der Begegnung - Bis an die Enden der Erde - Wehrlose Schönheit
Von Hubert Keßler
Zusammenhalt im Pluralismus - Facetten einer Kultur der Begegnung
07.06.2019 im Justus-Knecht-Gymnasium
Öffentliche Tagung und Fortbildung
Bild G. Miksch,(three dolphins)
I) Professor Dr. Dres. h. c. Paul Kirchhof, Bundesverfassungsrichter a. D., Seniorprofessor distinctus
„Voraussetzungen und Ziele der Freiheit – zu den Bedingungen eines selbstbestimmten, verantwortlichen Lebens“.
II) Prof.essa Lorenza Violini,
Grundrechte als Instrument oder Bedrohung des Zusammenhalts?
-Verändern sich Grundrechte im multikulturellen Kontext (eventuell: am Beispiel der Religionsfreiheit)
-Verändert sich Religionsfreiheit im europäischen Kontext)
III) Prof. Dr. Markus Vogt
„Zusammenhalt durch Gleichheit? Reflexionen zum Verhältnis von Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus.“
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07.06.2019 im Justus-Knecht-Gymnasium
Tagungsleitung
Hubert Keßler
Diplomtheologe
Vorsitzender Kulturinitiative e.V.
Lehrer am Gymnasium JKG
Prof. Dr. Franz Reimer
Professur für Öffentliches Recht und Rechtstheorie
Hein-Heckroth-Straße 5
35390 Gießen
Einleitung
Paul Kirchhof (Universität Heidelberg) beschreibt Pluralismus als „Offenheit für das Individuelle und Verschiedene, zugleich aber den Zusammenhalt der Gesellschaft in den elementaren Werten von Würde, Freiheit, Gleichheit“[1]. Markus Vogt (Universität München) bezeichnet ihn als „die jüngere Schwester von Freiheit“[2], die hohe Anforderungen an die Entscheidungsfähigkeit der Individuen stellt und vielfach Orientierungsschwierigkeiten in der individuellen Lebensführung erzeugt. Damit stellt sich einerseits die Frage: Wie viel Pluralismus erträgt die Freiheit in ihrem unendlichen Streben? Oder anders formuliert: Was sind die „Voraussetzungen und Ziele der Freiheit des Menschen und was sind die Bedingungen eines selbstbestimmten, verantwortlichen Lebens“ (wie Kirchhof seinen Beitrag betitelte)? Was kann und darf Staat hier garantieren, was aber kann er nicht leisten?
Wenn es andererseits wahr ist, dass „der Pluralismus auch zur Erosion gemeinschaftlicher Traditionen führen und die ethisch-kulturellen Grundlagen des Rechts so schwächen kann, dass dieses im Leeren hängen“[3] bleibt, stellt sich umgekehrt auch die Frage, wie viel und welche Art von Pluralismus einer Gesellschaft letztlich zuträglich ist. Schließlich lebt der Staat nach dem Böckenförde-Diktum von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann; er ist „in gewisser Weise … schwach, weil er darauf angewiesen ist, dass ihm die ethischen Voraussetzungen für sein Gelingen von außen zukommen.“[4]
Darum ist ein Nachdenken über das Verbindende in einem pluralistisch ethisch-kulturellen Umfeld von Nöten. In seinem Beitrag „Zusammenhalt durch Gleichheit? Reflexionen zum Verhältnis von Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus" fragt Markus Vogt daher: Worauf bezieht sich Gleichheit, damit sie nicht in einem Egalitarismus endet und zur Auflösung der Freiheit und des Individuellen führt? Was verhindert, dass das Sprechen von Gleichheit im Zwischenmenschlichen in einer Neiddebatte erstickt? Und was bedeutet „gleich“ und „gerecht“ in einem pluralistischen Kontext?
Der Zusammenhalt einer Gesellschaft im Pluralismus ergibt sich über Würde, Freiheit. Die Grundrechte und die mit ihnen auszubalancierenden Staatsziele enthalten einen Kanon ethischer Werte.[5] Sie möglichen damit beispielsweise auch einem „Nichtstaatsangehörigen“ ein menschenwürdiges Leben hier. Er ist „in der freiheitlichen Demokratie nicht bloßer Gast ist, sondern menschenrechtsberechtigter Rechtsgenosse. (…) Demokratische Solidarität ist also eine einladende, nicht eine ausgrenzende Solidarität.[6]
Fakt ist jedoch, dass der Pluralismus sich auch in einem Wertepluralismus zeigt, und dies nicht nur zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sondern auch zwischen Jung und Alt, Stadt- und Landbewohner, Gläubigen und Atheisten usw. Der Wertepluralismus ist daher eine „Herausforderung für Kommunikation“ (Markus Vogt).[7]
Verändern sich damit auch die Grundrechte, ihr Verständnis und die gelebte Grundrechtspraxis? Gefährden Grundrechte, indem sie Pluralität sichern, zugleich den Zusammenhalt der Gesellschaft? Diesen Fragen wendet sich Lorenza Violini ( Universität Mailand) zu:
Inwiefern helfen uns die Grundrechte – sind sie Instrument oder erfahren wir sie als Bedrohung des Zusammenhalts? Verändern sich Grundrechte im europäischen und multikulturellen Kontext? Wenden sie sich von einem Mittel des Schutzes individueller Freiheit gegen den Staat zu einem Durchsetzungsmittel gesellschaftlicher Ansprüche gegen das Individuum?
[1] Paul Kirchhof, STRATEGIEN ZUR ENTFALTUNG DER WERTE; Wie Kann man in einer pluralistischen Gesellschaft unter den Bedingungen einer Demokratie für Werte eintreten, sie fördern und verteidigen? http://www.pass.va/content/dam/scienzesociali/pdf/acta6/acta6-kirchhof.pdf 30.12 . 2018 19:00
[2] Vgl. Wilhelm Korff, Markus Vogt, Gliederungssystem angewandter Ethik, S. 625 ff
[3] ebenda
[4] Siehe 1
[5] Josef Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat, Der Konsens der Gesellschaft im Zeichen der Verfassung legt den Gedanken nahe, die Verfassung als Tafel der Grundwerte zu deuten. In der Tat hat das Grundgesetz höheren Ehrgeiz, als bloßes Organisationsgerüst des politischen Prozesses zu sein. Es postuliert die Würde des Menschen als die Grundlage des Gemeinwesens, als das Richtmaß der Grundrechte wie der Organisationsregeln. Die rechtstechnischen Normen der Verfassung bergen als ethische Substanz die Ideen der Individualfreiheit und der Selbstbestimmung des Volkes, der Toleranz und der sozialen Gerechtigkeit, der rechtsstaatlichen Gleichheit und der bundesstaatlichen Differenzierung.
http://www.gleichsatz.de/b-u-t/can/rec/isensee1grundwert.html _ 31.12.2018_ _ 7:00_
[6] siehe 1
[7]Markus Vogt, Wie werden Werte geschaffen, Politische Studien 457, https://ordosocialis.de/pdf/M.Vogt/Wertekommunikation_PolStudien-9-2014.pdf 31.12.2018 7:00
Einführung
I) Professor Dr. Dres. h. c. Paul Kirchhof Bundesverfassungsrichter a. D., Seniorprofessor distinctus _ „Voraussetzungen und Ziele der Freiheit – zu den Bedingungen eines selbstbestimmten, verantwortlichen Lebens“._
II) Prof.essa Lorenza Violini Grundrechte als Instrument oder Bedrohung des Zusammenhalts? Verändern sich Grundrechte im europäischen und multikulturellen Kontext
III) Prof. Dr. Markus Vogt
„Zusammenhalt durch Gleichheit? Reflexionen zum Verhältnis von Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus.“
Prof. Dr. Dres. h.c. Kirchhof
Bundesverfassungsrichter a. D., Seniorprofessor distinctus
Vita
Paul Kirchhof – Vordenker und Nachdenker
Paul Kirchhof ist Professor für öffentliches Recht und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Seine Vorschläge für eine tiefgreifende Reform und Vereinfachung des Steuerrechts sowie für einen radikalen Abbau der öffentlichen Schulden bestimmen seit Jahrzehnten die öffentliche Diskussion entscheidend mit.
Als Richter am Bundesverfassungsgericht hat Kirchhof an zahlreichen für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt. So war er an Karlsruher Beschlüssen zum Euro, zur Vereinbarkeit des Grundgesetzes mit dem EU-Vertrag von Maastricht, zum Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, zum Existenzminimum für Kinder sowie zum Schutz der Familien als Berichterstatter beteiligt.
Seit seiner Ernennung zum Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg im Jahr 2013 wirkt Paul Kirchhof weiterhin als Wissenschaftler und Publizist. Er schreibt viel beachtete Bücher, Aufsätze und hält Vorträge. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften wählte ihn mit Wirkung zum 1. April 2013 zu ihrem Präsidenten.
Themen
„Voraussetzungen und Ziele der Freiheit – zu den Bedingungen eines selbstbestimmten, verantwortlichen Lebens“.
Unter diesem Titel entfaltet Herr Kirchhof die Frage, inwieweit unser Verfassungsverständnis auf die selbstbestimmte Suche nach dem individuellen Glück setzt, inwieweit wir dieses vom Staat erwarten dürfen.
Texte zum Thema
Die Freiheit liegt im Unterschied
DIE IDEE DER MENSCHENWÜRDE ALS MITTE DER MODERNEN VERFASSUNGSSTAATEN
STRATEGIEN ZUR ENTFALTUNG DER WERTE
Unsere Wertegemeinschaft : Wenn die Freiheit ins Leere läuft
Bildung Freiheit Verantwortung
Vortrag
Prof. Dr. Markus Vogt
Vita
Lehrstuhl für Christliche Sozialethik LMU München
Biografie und wissenschaftliche Laufbahn
Prof. Dr. Markus Vogt, Dipl. theol. M.A. phil., geb. 1962 in Freiburg i.Br., verheiratet, 3 Kinder; Studium der Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern; 1992-1995 wiss. Mitarbeiter im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung und Mitarbeit in der Redaktion “Handbuch der Wirtschaftsethik” und “Lexikon der Bioethik” (Görresgesellschaft).
Oktober 1998 bis März 2007 Professur für Christliche Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos in Benediktbeuern und seit April 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Aufgaben neben seinem Lehrstuhl:
2008 - 2014 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raums. seit 2008 Mitglied/Vorstandsmitglied des Münchner Kompetenzzentrums Ethik (MKE), 2011/12 Forschungsprofessur am Rachel Carson Center for Environment and Society (und seither permanent fellow dort); 2015 - 2017 Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät; seit 2016 Mitglied/Sprecher des Sachverständigenrates Bioökonomie der Bayerischen Staatsregierung; seit 2017 Mitglied der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 beim IASS (Institute for Advanced Sustainability Studies).
Mitglied/Fachberater in zahlreichen kirchlichen und wissenschaftlichen Gremien, z.B. Arbeitsgruppe für ökologische Fragen der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz (seit 1995), sowie Diözesanrat, Landeskomitee der Katholiken in Bayern, Katholisch Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ), Eugen-Biser-Stiftung, Institut für Theologie und Frieden, Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS), Leitung des Münchner Hochschulkreises an der Katholischen Akademie in Bayern, Vertrauensdozent des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes (KAAD), Selbach-Umwelt-Stiftung, European Forum for the Study of Religion and the Environment (EFSRE), Institute for Environment and Religious Studies an der Nationalen Universität Uschghorod/Ukraine, Moderation der Reihe “Wissenschaft für Jedermann” (Deutsches Museum/Katholische Akademie in Bayern), Staatslexikon (Fachberater für die 8. Auflage).
Forschungsschwerpunkte: Anthropologische und sozialphilosophische Grundlagen der Ethik; Mensch-Umwelt-Beziehungen; Wirtschaftsethik/Gerechtigkeitstheorien; globale Entwicklung; Politische Ethik/Friedensethik.
Stipendien/ Preise: Scheffel-Preis, Humanismus-Heute-Preis, Cusanuswerk (Grund- und Promotionsförderung), DAAD ( Auslandsstipendium für Israel), Görresgesellschaft (Habilitaitionsstipendium), Economy and Society Award der päpstlichen Stiftung „Centesimus Annus Pro Pontifice“ (CAPP, 2017). Staatsmedaille für herausragende Verdienste um die Umwelt ( Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz, 2018).
Themen
„Zusammenhalt durch Gleichheit? Reflexionen zum Verhältnis von Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus“
Texte zum Thema
Soziale Marktwirtschaft im Anspruch des Aristotelischen Gerechtigkeitsmodells
Vortrag
„Zusammenhalt durch Gleichheit? Reflexionen zum Verhältnis von Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus“
Professoresa Lorenza Violini, Mailand
Vita
Curriculum vitae
Prof. Violini leitet an der Universität Mailand die Abteilung für supranationales und Italienisches Öffentliches Recht
PERSONAL INFORMATION
1983 Master of Comparative law, University of Illinois at Urbana Champaign (USA) 1979 Diploma Droit Comparé de l’Environment, University of Strasbourg (France) 1978 Laurea in Giurisprudenza, cum laude, University of Siena (Italia)
CURRENT POSITION
2002 – to date: Full Professor of Constitutional and Comparative law, Faculty of Law, University of Milan (Italy) and Permanent Fellow of the Center for Ethics and Culture, University of Notre Dame (Indiana, USA)
PREVIOUS POSITIONS
Full Professor of Constitutional law, Faculty of Law, University of Pavia (Italy) Associate Professor of Institutions of Public law, Faculty of Law, University of Pavia Assistant Professor of Constitutional law, Faculty of Law, University of Pavia
Research Fellow, University of Illinois at Urbana Champaign (USA)
Research Assistant (Wissenschaftliche Mitarbeiterin), Albert Ludwigs-Universität, Institut für Öffentiches Recht ( Freiburg i. Br., Germany)
TEACHING ACTIVITIES
Constitutionalism and Sustainable development (taught in English),
University of Milan Comparative public law and Constitutional law,
University of Milan Regional law, University of Milan – Bicocca, Regional Law
Faculty of Economics, University of Pavia, Institutions of public law
Ihr neuestes Werk (auf Englisch)
Die fragmentierte Landschaft des Grundrechtsschutzes in Europa
Die Rolle der gerichtlichen und nichtgerichtlichen Akteure
Herausgegeben von Lorenza Violini, ordentlicher Professor für Verfassungsrecht und Antonia Baraggia, Assistenzprofessorin für vergleichendes Verfassungsrecht, Universität Mailand, Italien
Der zusammengesetzte Charakter des EU-Verfassungsrechts und die Präsenz verschiedener Akteure zum Schutz der Rechte in der europäischen Landschaft stellen einen komplexen und fragmentierten Rahmen dar, der immer noch nach einer kohärenten Struktur sucht. Dieses anspruchsvolle Buch bietet einen umfassenden Überblick über den Schutz der Grundrechte in Europa. In diesem Beitrag werden nicht nur die Rolle der juristischen Akteure, sondern auch die zunehmende Bedeutung nichtjustizieller Einrichtungen, darunter Agenturen, nationaler Menschenrechtsinstitutionen, der Venedig-Kommission und Gleichstellungsbehörden, berücksichtigt .
Themen
Grundrechte als Instrument oder Bedrohung des Zusammenhalts?
-Verändern sich Grundrechte im europäischen und multikulturellen Kontext
Vortrag
Prof. Lorenza Violini
Diritto Costituzionale
Facoltà di Giurisprudenza
Università di Milano –„ La Statale“
Grundrechte als Instrument oder Bedrohung des Zusammenhalts
Inhaltsübersicht
- HINFÜHRUNG 1
- AUF DER SUCHE NACH DEM KERN DER GRUND- UND MENSCHENRECHTE 4
- ALTE UND NEUE „KRISEN“ 9
- DIE ANTROPHOLOGISCHE DIMENSION DER KRISE 13
1. HINFÜHRUNG
Das mir anvertraute Thema ist unterschwellig mit gewissen Bedenken belastet, die sich in den letzten Jahren in der Gesellschaft und in der Literatur ausgebreitet haben.
Extrem ausgedrückt
- schrieb der MoralphilosophMacintyre „An die Menschenrechte zu glauben, ist wie an Einhörner zu glauben“
- Mary Ann Glendon zitierte in einem Vortrag im November 2018 Alan Rosen. Er schreibt: „Das Projekt der Menschenrechte hat verloren“.
- Auf deutschem Boden kritisieren manche Staatsrechtslehrer den Begriff der Grundrechte, wenn ihre Auslegung durch die Rechtsprechung zu weit ist und weil sie individualisierende, d.h. potentiell separierende, die Gesellschaft auseinandertreibende Wirkung haben.
Die Begeisterung für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1948 scheint sich angesichts aktueller Probleme (Multikulturelle Immigration, Bioethic, Gefährdung der Staatssicherheit wegen Terrorismus) gelegt zu haben. Heute, 70 Jahre später, sieht man die Grund- und Menschenrechte mit mehr Skepsis als noch zur Nachkriegszeit.
Damals erschien die Wiederentdeckung des Naturrechts, aus dem die Grund- und Menschenrechten stammen, als eine aussichtsreiche Alternative zum Rechtspositivismus, der, zusammen mit den Nationalismen, den Weg in die Diktatur ebnete. Das Naturrecht wurde als ein Schutz der Grundrechte des einzelnen gegen das staatliche Monopol der Rechtssetzung und der Rechtsentscheidung verstanden.
Diese Idee dauerte nur kurz, weil das Konzept von vielen Unsicherheiten umgeben war. In den folgenden Jahrzehnten waren es daher auf internationaler Ebene die Menschenrechte und auf nationaler (und später europäischer) Ebene die Grundrechte, die das Überleben einer ethischen Instanz gewährleisteten. Auf internationaler Ebene, zum Beispiel, wurden die Staaten nicht nur danach beurteilt, ob sie ihre Verträge einhielten, sondern auch danach, wie sie mit ihren Einwohnern und deren Rechten umgingen.
Warum dann all diese Skepsis?
Ich sehe mich nicht in der Lage, Ihnen heute eine Antwort darauf zu geben, wie es zu dieser skeptischen Haltung in der Literatur und zu der Verunsicherung in der Gesellschaft gekommen ist. Sie ist aber allgegenwärtig. Ich möchte jedoch heute versuchen, mit Ihnen zusammen herauszufinden, was hinter diesen Ängsten steckt und wie man ihnen möglicherweise begegnen kann.
Hierfür ist es jedoch erforderlich, zu den Wurzeln der Grundrechte zurückzukehren und uns die Grundfragen wieder zu stellen, die die Materie charakterisieren.
- Also: Worum geht es bei den Grundrechten eigentlich? Abwehrrechte? Leistungsrechte? „neue“ Grundrechte? Werte als Basis für die Werteordnung der Gesellschaft? ….. Die zahlreichen Definitionen und Erscheinungsformen dieser Rechte zeigen, dass der Begriff der Grundrechte dynamisch und vielfältig ist. Ihre geschichtliche Entwicklung hat uns gelehrt, dass immer neue Anforderungen und Bedürfnisse entstehen, die es von staatlicher Seite zu schützen und einzufordern gilt.
- Die Dynamik der Grundrechte lässt sich an den vier folgenden historischen Bespielen veranschaulichen:
- Im 18. Jahrhundert wurden die Grundrechte als Abwehrrechte gegen die Exekutivgewalt verstanden, sie sicherten also primär den Schutz gegen den Staat (Schlagwort: Gesetzesvorbehalt)
- Nach dem zweiten Weltkrieg wurden im Rahmen der Gewaltenteilung alle drei staatlichen Instanzen mit dem Schutz der Grundrechte betraut. So wird in Art. 1 Abs.1 GG der Schutz der Menschenwürde den 3 Gewalten übertragen und so eine staatliche Verpflichtung geschaffen. Auf den Schutz der Grundrechte gerichtet, löst der Verfassungsstaat das Problem der Grundrechtsgewährleistung nicht nur durch die Gewaltenteilung, sondern auch durch das komplexe Gefüge von parlamentarischer Repräsentation, verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechten, ihrer richterlichen Kontrolle, und durch Entscheidungsprozesse, die letztlich alle, aber gebremst durch die Gewaltenteilung, auf dem Mehrheitsprinzip beruhen (Rohnheimer)
- Nach langer Auseinandersetzung innerhalb der kirchlichen Rechtslehre ist in der Gegenwart der Verweis auf die Menschenrechte auch von der Kirche (Johannes den XXIII und Johannes-Paul den II) wieder üblich geworden.
- Die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat erstreckt sich durch die Drittwirkung heute auch auf einige Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander.
Die geschichtliche Entwicklung der Grundrechte kann mit der Erforschung des Universums verglichen werden: auf der Suche nach dem Ursprung der Schöpfung hat die Menschheit es sogar geschafft, die „schwarzen Löcher“ zu fotografieren, aber wir wissen nicht, wo diese Reise einmal enden wird.
Betrachten wir das Beispiel der Astrophysik etwas genauer: die Frage nach dem Sinn dieses Abenteuers treibt uns an, der Zukunft mit Neugier entgegenzublicken, trotzt der Angst vor dem Unbekannten. Zugleich wissen wir aber, dass der Weg in die Zukunft auch immer etwas „Solides“ braucht.
Die Dialektik zwischen dem „Soliden“ und dem „Unbekanntem“ gehört zu jedem Bereich des menschlichen Denkens und Handelns: Es gibt immer ein Mare Nostrum der Landkarten der Römer, und wo das geographische Wissen endete, schrieben diese: Hic sunt leones. Das heißt, das Geheimnis – das Unbekannte – als Teil der Erkenntnis mag Angst und Zittern verursachen, wie die Löwen. Auch Tacitus schien bewusst zu sein, dass das Unbekannte den Voelker Angst verursacht. In seinem Buch über die Germanen schrieb er: “Secretum illud quod sola reverentia vident, hoc deum appellant.“ (Das Geheimnisvolle, das sie in Angst und Zittern versetzt, das nennen sie Gott). Um solche Ängste entgegenzugehen, braucht man etwas „Solides“: eine Erde, ein fester Boden für die Astrophysik, ein Stern.
Was ist das „Solide“, auf dem die Theorie der Grundrechte gründet?
In diesem Vortrag werde ich mich zunächst dem „soliden“ Kernbegriff der Grundrechte annähern, d.h. dem Begriff der Menschenwürde. Anschließend werde ich ansatzmässig erläutern was unter dem Begriff „Krise“ zu verstehen ist. Abschließend werde ich kurz darauf eingehen, inwiefern eine „Krise“ auch eine Gelegenheit darstellt, um die fundamentalen Fragen in Bezug auf die Gesetze und die Rechte – aber auch in Bezug auf die menschliche Erfahrung - aufzugreifen.
2. AUF DER SUCHE NACH DEM KERN DER GRUND- UND MENSCHENRECHTE
Als im Jahre 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet wurde, bekundeten die beteiligten Regierungen ihren Willen, die Rechte des Menschen zu achten. Das wohl wichtigste Wort dieser Erklärung wurde der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahre 1789 hinzugefügt: die Würde des Menschen.
Der Vorgänger der AEMR aus dem Jahr 1789 konzentrierte sich auf den Schutz der Freiheit, Gleichheit und der Brüderlichkeit. Die Nachfolgeerklärung übernahm diese Schutzgüter und erweiterte sie um das grundlegende Konzept der „Würde“, welches in zahlreichen Verfassungen der Nachkriegszeit aufgenommen wurde und die Rückkehr zur Idee vom Naturrecht signalisierte. Hierdurch sollte dem Staat die Monopolstellung in Bezug auf die Definition und Ausführung der Menschrechte dem Staat entzogen werden.
Bezeichnend ist unter diesem Gesichtspunkt die italienische Verfassung, die die „Rechte anerkennt“. Dieses Wort ( Anerkennung) deutet eine weitere Dimension an, von der die Grundrechte abgeleitet wurden. Bei der italienischen Verfassungsversammlung (1945-48) wurde aber die Idee des Naturrechts, im Sinne der Existenz eines übergeordneten Rechts ausdrücklich abgelehnt. Das Wort „Anerkennung“ wurde eben eher als Vorrang der Person und ihrer Würde vor der Macht des Staates gesehen, ohne festzulegen, woher diese Vorrang kam; insofern gab es nicht nur von den Christdemokraten, sondern auch von den Kommunisten und den Liberalen eine einhellige Zustimmung.
Diese ausnahmslose Übereinstimmung war bereits zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung der Allgemeinen Erklärung zu verzeichnen, bestand, wie Maritain sagte, jedoch nur insofern, als man die Frage nach den philosophischen und rechtlichen Ursprüngen ausklammerte. In beiden Fällen herrschte daher die „Anerkennung“ einer terra incognita, die das Einvernehmen begünstigte.
Die „Anerkennung“ der Menschenwürde hat sich als juristisches und gleichzeitig auch als meta-juristisches Prinzip erwiesen, das in der Umwandlung der großen metaphysischen Fragen in den Bereich des Immanenten bestehet. Prof. Udo Di Fabio hat eine solche Metaphysische Dimension der Grundrechte (verstanden in engem Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde) zutreffend beschrieben: „Als Metaphysik gelten letzte Fragen menschlicher Erkenntnis und Existenz. Letzte Fragen sind immer auch erste Fragen, also Fragen des Ursprungs, des Herkommens, der Natur. Es sind die Fragen nach den Prämissen, nach unverrückbaren Axiomen, es geht um Vorannahmen und Verständigungshorizonte.“
Diese Betrachtungsweise der Metaphysik deckt sich größtenteils mit dem Grundgedanken Harts aus den 60er Jahren. Nach dem berühmten englischen Rechtsphilosophen kann die Verbindung der Metaphysik mit den Grund- und Menschenrechten heute kaum mehr nachvollzogen werden. Um es mit den Worten von Herbert Hart zu sagen: „Die fortwährende Wiederentdeckung einer Form der Naturrechtslehre ist zum Teil auf die Tatsache zurückzuführen, dass ihre Anziehungskraft sowohl von der göttlichen, als auch von der menschlichen Autorität unabhängig ist, und zum Teil auf die Tatsache, dass sie trotz einer metaphysich aufgeladenen Terminologie, die heute kaum noch akzeptiert wird, bestimmte elementare Begriffe enthält, die für das Verständnis von Moral und Recht von Bedeutung sind. Diese müssen wir versuchen, von ihrem metaphysikalischen Umfeld zu lösen und hier auf einfacher Weise (auf englisch „in simpler terms“) zu formulieren" (i.e. mit einfacheren Begriffen auszudrueken)
Wie kann man über die Menschenwürde „in einfachen Worten“ oder „in simpler terms“ sprechen?
- Di Fabio zeigt uns einen ersten möglichen Weg, um in einfachen Worten über die Menschenwürde zu sprechen: hierzu muss man sich selbst fragen, woher die eigene Würde kommt und warum man respektiert werden möchte. Jeder von uns ist hier herausgefordert, eine persönliche Antwort zu geben.
- Bezeichnend ist auch die Parallele zwischen der deutschen und der italienischen Verfassung. Ähnlich wie in Italien, aber in einer deutlicheren Art und Weise, haben sich die Gründer der deutschen Verfassung auf metaphysische Aspekte besonnen. Anders als die Weimarer Verfassung stellte das Grundgesetz nicht nur den Schutz der Republik, sondern auch den Menschen mit seinen angeborenen Rechten in den Vordergrund. Seine Würde wurde damit „das tragende Konstitutionsprinzip und der oberste Verfassungswert“. Darüber hinaus, wie es Ihnen sicherlich bekannt ist, hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz betont, dass „jeder Mensch als Person diese Würde besitzt, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaft, seine körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistung und seinen sozialen Stand.“
- Die Würde des Menschen kann zwar verletzt werden, indem sie nicht „geachtet“ wird. Sie kann einem Menschen aber nicht genommen werden und sie bleibt ihm auch nach dem Tod erhalten. Dem Menschen wird sozusagen, allein auf der Grundlage seiner Existenz, ein „ewiges Recht“ zur Seite gestellt, das ihm bedingungslos anhaftet, mit seiner Existenz begründet wird und auch nach seinem Tod weiter besteht (Mephisto-Urteil“ im Jahre 1971).
- Ich möchte nochmals betonen, dass die Menschenwürde ein dem Menschen immanentes Recht ist, welches ihm zwar nicht genommen, aber verletzt werden kann. Bei einigen Verletzungen ist es möglich, sie in simpler terms zu erklären. Es gibt heutzutage „evidente und unbestrittene Verletzungen“ die auch höchstrichterlich als unmittelbarer Eingriff in den Schutzbereich angesehen wurden. Beispiele sind die Todesstrafe oder das Abschießen eines von Terroristen entführten Flugzeugs mit unschuldigen Personen gemäss dem Luftsicherheitsgesetz, das 2005 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt wurde. Die Wertung „unmittelbarer Eingriff“ mag in der Heiligkeit des Menschen begründet sein, die in der westlichen Tradition auf die Bibel zurückzuführen ist. Mit einfacheren Worten lässt sich sagen: Wenn der Staat weder den Menschen ‚schafft‘ noch dessen Rechte (die er lediglich anerkennt), so kann er ihm ebenso wenig das Leben nehmen, das die Grundlage seiner Würde und somit auch seiner Rechte ist.
Andere Handlungen, wie beispielsweise das zwangsweise Abschneiden der Haare (Ungarn) oder der Anspruch auf eine “der Würde des Menschen“ angemessene häusliche Unterkunft oder die Geschlechtsverstümmelung (auch mit „Einwilligung“), sowie die Ein-Kind-Politik in China, tangieren ebenfalls die grundrechtlich geschützte Menschenwürde und dies wurde auch von der Rechtsprechung verschiedener Länder so anerkannt. Von daher kann man über die Menschenwürde dann in simpler terms sprechen, wenn es um das direkte Eindringen von Verletzungen in den inneren Bereich der Person und in deren persönliche Merkmale geht. In diesem Sinn wäre dies ein Prinzip, das die Rechtsprechung nur sehr sparsam verwenden sollte, (was sie manchmal nicht tut…) (Hassemer).
- Umstritten ist hingegen das Thema „würdevolles Sterben“. Hier treffen subjektive Begriffsauffassungen einer pluralistischen Gesellschaft aufeinander[1], die an die Stelle einer objektiven Auffassung der Menschenwürde treten.
Bekanntlich gehört es zum Wesen der Demokratie, dass sie einer pluralistischen Gesellschaft dient, wo Mehrheits- und Minderheitsauffassungen zusammenleben müssen. „Das System demokratisch-parlamentarischer Entscheidungsfindung ermöglicht es – in einem historisch noch nie dagewesenem Maße –, dass Menschen unterschiedlicher Auffassung (…..) in Frieden, Freiheit und Sicherheit zusammenleben können. Werden jedoch die Fragen nach der Gerechtigkeit von Handlungen und nach dem Gut und Böse von Gesetzen aus Prinzip und mit System geleugnet, mithin Politik und legitime Gesetze darauf reduziert, was jeweils die Mehrheit beschließt, dann begibt sich die Demokratie in ernste Gefahr, zur bloßen Diktatur der Mehrheit zu verkommen“ (Rhonheimer)
Schutz gegen die „Diktatur der Mehrheit“ sind im Verfassungsstaat die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie entscheidet nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wonach die unterschiedlichen Grundrechte und Interessen gegeneinander abgewogen werden. Aber, wenn es um die Menschenwürde in Verbindung mit dem Recht auf Leben geht, dann wird diese Methode problematisch, denn die Menschenwürde ist kein abzuwägendes Interesse oder Recht, sondern gerade der Massstab, oder – noch radikaler gesagt – sie ist selbst die Waage (Silvestri), der feste Boden.
Wenn dieses Prinzip in Frage gestellt wird, dann erlebt die Menschenwürde selbst eine radikale Krise, wie es heutzutage manche in der Literatur andeuten (MacCrudden, 2006)
Nur ein Beispiel von vielen: nach der Veröffentlichung des Berichts des Ethischen Komitees von Busch über die Menschenwürde 2008 schrieb Steven Pinker einen Artikel in der Zeitschrift New Republic ( vom 28. Mai 2008) unter dem Titel “The Stupidity of Dignity”
3. ALTE UND NEUE „KRISEN“
Wie die Menschenwürde, haben auch alle fundamentalen Rechte viele Krisen durchlebt.
Es gab zwar einen Moment in unserer Geschichte, in dem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einstimmig unterzeichnet wurde. Diesbezüglich aber möchte ich erneut die Worte Maritains zitieren: „Wir haben uns auf alles geeinigt, sofern wir uns nicht gefragt haben, was der Ausgangspunkt dieses Abkommens ist.“
Mögliche Ursachen für die Krise des Projekts der Menschenwürde und der Grundrechte sind:
- die Unsicherheit über das Bestehen eines Fundamentes,
- die Gefahr (Mary Ann Glendon), dass die Bedeutung der Pflichten - angesichts einer Überbewertung der Rechte - verschwindet. Als Folge riskieren die Rechte ihre Solidaritätsbedeutung zu verlieren und damit zu einer Bestätigung des Egoismus zu werden;
- die Aufsplitterung der Rechte in Frauenrechte, reproduktive Rechte, Rechte von Kindern, Tieren, Bäumen usw. Diese „selektive Haltung“ stellt eine Gefahr für die Rechte dar, insofern es zu einer Vervielfachung der Konflikte führt. ( Schlagwort: „one nation under lawyers“)
Die Krise, in der wir uns zur Zeit befinden, ist aber sicherlich nicht die erste, mit der sich die Rechtstheorie auseinandersetzen musste; aber sie scheint radikaler zu sein. Warum?
- Der Universalismus, nach dem die Ideen, Ideale, Rechte und Pflichten grundsätzlich für alle gelten, gerät so immer mehr in Vergessenheit. Amartya Sen betonte die Gefahr, dass auch die Rechte irgendwann der Realisierung einer Art kultureller Kolonialpolitik zum Opfer fallen werden, was zu einer Vernachlässigung lokaler Traditionen führt. Im Übrigen, werden alle universalia in Krise gestellt; sogar die liberale Demokratie durchlebt eine radikale Krise, die zum paradoxales Schlagwort „unliberale Demokratie“ geführt hat.
Die heutigen Züge der Krise zeigen einen institutionellen und einen substantiellen Aspekt:
- Der institutionelle Aspekt: den Gerichten wird vorgeworfen, an Stelle der Parlamente über kontroverse ethische Fragen zu entscheiden und damit die Grenzen zwischen Judikative und Legislative zu verwischen (juristocracy). Darüber hinaus vermehren sich die Gerichtsbarkeiten, die über die verschiedenen Gesetzestexte zu urteilen haben. Man stellt sich die Frage, ob eine derartige Verflechtung von Entscheidungen und Instanzen zu „mehr“ oder „weniger“ Schutz führt, da die Rechtsunsicherheit wächst und die Dauer der Prozesse immer länger wird.
- Angesichts dieser Lage muss man sich immer wieder bewusst werden, dass die Gewährleistung der Grundrechte einem komplexen Gefüge anvertraut ist. Dieses komplexe Gefüge besteht (wie oben gesagt) „aus parlamentarischer Repräsentation, verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechten, ihrer richterlichen Kontrolle, und aus Entscheidungsprozessen, die letztlich alle, aber gebremst durch Gewaltenteilung, auf dem Mehrheitsprinzip beruhen“. Ein solches Gefüge sollte nicht komplett den Richtern übertragen werden (was in Italien oft der Fall ist)
- Von substantiellem Gewicht ist der Werte-Konflikt zwischen dem radikalen Islam und der jüdisch-christlichen Kultur des Westens. Die Auseinandersetzung betrifft:
- die Gleichheit (Gleichheit der Menschenwürde) der Geschlechter,
- die Trennung von Kirche und Staat (säkularer Charakter des Staates),
- die Religionsfreiheit (Freiheit, die Religion zu wechseln oder schlicht sich von der eigenen abzuwenden).
Von dieser kulturellen Andersartigkeit sehen wir meistens nur die Auswirkungen wie die Nahrungs- und Bekleidungsvorschriften. Die eigentliche Frage ist allerdings: Gibt es noch eine Alternative zur Wahl zwischen der Sekularisierung des Islams auf der einen, und der Islamisierung der Staaten auf der anderen Seite? Im Hinblick auf diese Frage möchte ich aus dem vom Papst Franziskus und dem Imam der Al Azahr unterzeichnete Dokument zur Religionsfreiheit zitieren, das nicht nur für alle eine Überraschung war, sondern auch als Beispiel für den Beginn einer neuen Sichtweise auf die Beziehung untereinander zu sehen ist.
„Im Namen Gottes, der alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und der sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben, die Erde zu bevölkern und auf ihr die Werte des Guten, der Liebe und des Friedens zu verbreiten. Im Namen Gottes und all dieser erklären Al-Azhar al-Sharif – mit den Muslimen von Ost und West – und die Katholische Kirche – mit den Katholiken von Ost und West – gemeinsam, dass sie die Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Verständnis als Methode und Maßstab annehmen wollen,
Die Freiheit ist ein Recht jedes Menschen: ein jeder genießt Bekenntnis-, Gedanken-, Meinungs- und Handlungsfreiheit. Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat. Diese göttliche Weisheit ist der Ursprung, aus dem sich das Recht auf Bekenntnisfreiheit und auf die Freiheit, anders zu sein, ableitet. Deshalb wird der Umstand verurteilt, Menschen zu zwingen, eine bestimmte Religion oder eine gewisse Kultur anzunehmen wie auch einen kulturellen Lebensstil aufzuerlegen, den die anderen nicht akzeptieren.
Der verdammenswerte Terrorismus, der die Sicherheit der Personen im Osten als auch im Westen, im Norden als auch im Süden bedroht und Panik, Angst und Schrecken sowie Pessimismus verbreitet, ist nicht der Religion geschuldet – auch wenn die Terroristen sie instrumentalisieren –, sondern den angehäuften falschen Interpretationen der religiösen Texte, den politischen Handlungsweisen des Hungers, der Armut, der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, der Anmaßung; deswegen ist es notwendig, die Unterstützung für die terroristischen Bewegungen durch Bereitstellung von Geldern, Waffen, Plänen oder Rechtfertigungen und auch durch die medizinische Versorgung einzustellen und all dies als internationale Verbrechen anzusehen, die die weltweite Sicherheit und Frieden bedrohen. Man muss einen derartigen Terrorismus in all seinen Formen und Erscheinungen verurteilen.“
Vielleicht lassen sich alle diese Krisen in einigen Fragen zusammenfassen: Sind die Menschrechte und die Grundrechte wirklich universell, oder sind sie nur das Ergebnis der westlichen Kultur, die die Welt kolonisieren will? Der Universalismus der Rechte ist gleichzeitig auch der Universalismus der Vernunft: ist es immer noch möglich, auf vernünftige Weise festzustellen, dass etwas gut für alle und nicht nur für manche ist? Kann das Recht immer noch als _ ars boni et aequi_ (das Recht als Wissenschaft des Guten und Gerechten) verstanden werden? Mehrheitsentscheidungen und Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit helfen uns, die Ursprünge der Grundrechte als „ins Herz geschriebenes Recht “ (wie es in der Vergangenheit über das Naturrecht gesagt wurde) anzuerkennen?? Was bestimmt das „Herz“ (die Erfahrung) der Menschen?
4. DIE ANTROPHOLOGISCHE DIMENSION DER KRISE
Geht man dem Problem weiter auf den Grund, stellt sich noch eine andere Frage: Betrifft die Krise der Menschenrechte das Recht oder vor allem den Menschen?
Was versteht man unter dem „Menschen“? Das wissenschaftliche Paradigma neigt dazu, all das in Frage zu stellen, was bisher als „Mensch“ definiert wurde: der Mensch als Resultat natürlicher Fakten wie der Geburt und des Todes. Früher lagen diese Fakten, die zur menschlichen Existenz gehören, außerhalb des menschlichen Kontrollbereichs. Aufgrund des technologischen Fortschritts hängen nun aber auch diese natürlichen Fakten in gewissem Maße vom Willen des Menschen ab – sie sind beeinflussbar geworden.
ich will ein blondes Kind, ich will ein gesundes Kind, ich will - und kann – sicherstellen, dass der Mensch dank genetischer Manipulation gesund und frei von Krankenheiten und vom Tod ist, oder ich will eben kein Kind usw. und auch die Entscheidung, sein Leben beenden zu können, wann und wie man sich wünscht, gilt als Angelegenheit des eingenen Willens.
Freiheit wird damit verstanden als Ausdruck des Willens, der im Rahmen des technisch Möglichen keine Grenzen kennt: Der technische Fortschritt verleitet zu einer weit verbreiteten Denkweise: ich kann alles wollen, was technisch möglich ist, denn Gut und Böse sind Konzepte, die völlig subjektiv geworden sind.
Hieraus folgt, dass es sich eben nicht nur um eine juristische, sondern auch um eine philosophische bzw. anthropologische Krise handelt, die uns dazu bewegt, über die Bedeutung des Menschen und über seine Beziehungen zu anderen Menschen nachzudenken. Das Recht im allgemeinen und insbesondere das Biorecht (Lebensrecht??) drängen uns zur Suche nach einer Antwort auf die Frage, was menschliches Leben und dessen Rechte sind. Unabhängig davon, welche Lösungen bei Konflikten zwischen den Rechtsgütern jeweils gefunden werden, kommen wir doch immer mit den großen Fragen der Menschheit in Berührung – mit den metaphysischen Fragen, die wir uns am Anfang dieses Vortrags in Anlehnung an Di Fabio und Hart gestellt haben.
Angesichts der pluralistichen (nach Ulrich Beck als liquiden definierten) Gesellschaft, in der alles zu schwanken scheint, ist es unerlässlich, sich auf diese Fragen zu besinnen und dort, wo es möglich ist, in einen Dialog zu treten, in dem die Solidarität zwischen den Menschen wachsen kann.
Die Rechtsprechung regt immer wieder zum Nachdenken an:
Zwei Zitate vom Supreme Court (1992) und vom Bundesverfassungsgericht (2004)
- „Unser Gesetz bietet persönlichen Entscheidungen in den Bereichen Ehe, Fortpflanzung, Empfängnisverhütung, Familienbeziehungen, Kindererziehung und Erziehung verfassungsrechtlichen Schutz. Diese Angelegenheiten, die die intimsten und persönlichsten Entscheidungen umfassen, die eine Person zu Lebzeiten treffen kann, Entscheidungen, die für die persönliche Würde und Autonomie von zentraler Bedeutung sind, sind für die durch die XIV. Änderung geschützte Freiheit von zentraler Bedeutung. Im Mittelpunkt der Freiheit steht das Recht, das eigene Konzept der Existenz, der Bedeutung, des Universums und des Geheimnisses des menschlichen Lebens zu definieren. Der Glaube an diese Dinge könnte die Attribute der Persönlichkeit nicht definieren, wenn sie unter dem Zwang des Staates gebildet würden……..". ( Geplante Elternschaft im Südosten Pennsylvanias gegen Casey, 505 U.S. 833 (1992)
- Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen (Personen), die sich an Bord eines Flugzeugs befinden, das von Terroristen als als Waffe gegen andere Menschen eingesetzt wird] ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.“
(www.bundesverfassungsgericht.de/en/decisions/rs20060215_1bvr035705de.html)
Diese Rechtsprechungen offenbaren zwei verschiedene, aber auch komplementäre Auffasungen der Grundrechte:
- die Freiheit der Suche nach dem Sinn des Lebens (nach dem Unbekannten) ohne Eingriffe des Staates und
- das Solide, die terra cognita, die uns erlaubt, die Suche auf festen Boden zu stützen. Es geht um die Unverzichtbarkeit einer objektiven, unzerstörbaren und bedingungslosen Version der Menschenwürde
Die gleiche Haltung bestimmt auch das Verständnis der Demokratie: sie ist der Boden, auf dem die Grundrechte geboren werden und gedeihen können.
Wie Rhonheimer schrieb, „ Die Demokratie entscheidet durch das Mehrheitsprinzip. Natürlich bleibt die Frage, ob allein das Mehrheitsprinzip schon genügt, um einem Gesetz moralische Legitimität zu verleihen. Was es konkret-politisch bedeutet, bleibt offen. Wichtige Koordinaten sind dabei aber abgesteckt. Insbesondere,
- dass es jenseits von politischer Macht und gesetztem Recht immer noch davon unabhängige gültige Maßstäbe von Recht und Unrecht gibt und
- …dass die Macht aller politischen Institutionen, insbesondere des Staates, sei er auch demokratisch legitimiert,
begrenzt ist und damit einem von ihm unabhängiger “Dimension” unterworfen ist
- sei es explizit Gott
- oder das Naturrecht
- oder etwas einfach „Unbekanntes“ (“secretum illud quod sola reverentia vident…. “)
Der Streit darüber, wie dieses “Etwas” anerkennbar …. und wie es politisch zu artikulieren ist, wird nie zu Ende gehen. Wichtig und im Interesse der Freiheit ist aber, dass dieser Streit weitergeht und als legitim, ja notwendig erachtet wird“.
[1] Caso Cappato („non solo hai diritto a chiedere che vengano interrotte cure non futili e salvavita ma hai diritto a decidere quanto deve durare il tuo processo di morte“ dictum della Corte Costituzionale italiana)Die ** Ausstellung** “Bis an die Grenzen der Erde” in Verbindung mit dem lokalen Bezug zeigt die bleibende Bedeutung des Christentums und ermöglicht vor Ort mit allen Menschen guten Willens, mit Schulen und Kindergärten …. ins Gespräch kommen zu können. Für die Schulen gibt es eine interaktive Arbeitsmöglichkeit.
**(Geplante) Vorträge im Rahmen der Ausstellung
Eröffnung: 31.3. 2019 - 9:00
Dr. Gianluca Carlin: Aufbruch in Zeiten des Umbruchs / Ein Neuanfang ist
möglich - Wehrlose Schönheit (Sonntag Vormittag - Messe 9:00 mit anschließendem Brunch, Vortrag und Gespräch)
Professor Dr. Klaus Berger:- Wir stehen wieder am Anfang - Frühes Christentum - Lernen aus den Anfängen des Christentums für heute
Die Bedeutung der Familie im Konzert der Lebensentwürfe 3.5.2019
Dr. Adolf und Maryjoe Diefenhardt: Die Familie – unter Einbezug von „Amoris Lätitia“ („die Freude der Liebe“)**
Etty Hillesum: Eine beeindruckende Frau in schwersten Zeiten. (Zeitpunkt offen) (Schirmherrrschaft: Muhterem Aras MdL Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg)
„Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bislang jemand erklären zu können, wie alles zusammenhängt.“
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Hintergrundliteratur zur Tagung
Thomas Adam -Das Christentum prägt unsere Heimat
Städtisches Museum Bruchsal 6 Jhd. Spuren des frühen Christentums bei uns
Ausstellung Stadtkirche Bruchsal 31.3 - 30.7.
Siehe unter Ausstellungen
Rechts - die interaktive Arbeitsmöglichkeit