16.5. 2014 Gibt es eine Seele Europas
Von Hubert Keßler
Gibt es eine Seele Europas
Die Europawahl steht vor der Tür. Damit stellt sich uns allen die Herausforderung, Stellung zu nehmen. Schauen wir auf
die bisherigen Wahlen, stehen wir vor einer eigenartigen Entwicklung: Die Teilnahme an der Wahl geht rapide nach unten,
auf der anderen Seite steht das Faktum, dass Europa bis in unsere Wohnzimmer hinein entscheidet. Das belegt die
Tatsache, dass über 70 Prozent aller neu verabschiedeten deutschen Gesetze auf Entscheidungen basieren, die in Brüssel
oder Straßburg getroffen wurden. Aufgrund dessen ist die Frage nach Europa, die Frage, Europa, was ist das eigentlich
und welches Europa wollen wir, durchaus von großem Interesse.
Dr. J. Zöhrer spricht über das Verständnis von Europa, wie es sich in den Schriften eines der großen Universalgelehrten
unserer Zeit, Joseph Ratzinger - em. Papst Benedikt XVI. zeigt. Welches Verständnis von Europa, welche Möglichkeiten
aber auch Gefahren sieht er in diesem Gebilde – Europa? Herr Zöhrer gehört zum Schülerkreis von Joseph Ratzinger und
lehrt an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg.
Hubert Keßler, Kulturinitiative e.V.Vortrag mit anschließendem Gespräch
Aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom entstanden
Europa im Denken von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt
Joseph Ratzinger / Papst Benedikt hat seit seiner Zeit als Erzbischof von München immer
wieder und regelmäßig in Vorträgen, Artikeln und Ansprachen zur Frage nach der Identität
und der Zukunft Europas Stellung genommen. Dies zeigt bereits, welches Gewicht der
Europagedanke bei ihm hatte. Was seine Ausführungen dabei so spannend macht, ist die
Tatsache, dass sie fast immer aus einem bestimmten Anlass heraus erfolgt sind, so dass sich
daraus ein sehr facettenreiches Bild seines Ringens um Europa ergibt. Den Grundtenor bildet
dabei durchgehend die Sorge um die Zukunft des Kontinents, der für die Herausbildung der
westlichen Zivilisation von kaum zu unterschätzender Bedeutung war. Konkret geht es ihm
dabei um die Frage, ob Europa auch in Zukunft zu einer Identität finden wird, die ihm sowohl
selbst Bestand gibt und die sich auch positiv auf jene Länder und Kontinente auswirkt, die
von der europäi schen Zivilisation geprägt sind und an ihr im Positiven und im Negativen
partizipieren.
Damit stehen wir aber schon vor der Frage, was diese Identität Europas kennzeichnet, ja ob es
eine solche Identität überhaupt gibt.
1. Europa - was ist das eigentlich?
Wenn Ratzinger von Europa spricht, hat er primär nicht Europa als geographisches Gebilde
vor Augen, sondern als eine kulturelle Einheit, wobei er auch diesbezüglich differenziert.
Das Gebiet, das diese kulturelle Einheit geographisch umfasst, war von Begi nn an nie
eindeutig festgelegt, und die Auffassung davon hat auch im Laufe der Zeit einen Wandel
durchlaufen. Im Anschluss an den griechische Historiker Herodot (484 bis 425 v. Chr.)
verstand man unter Europa zunächst die Länder rund um das Mittelmeer, die duch die
griechisch-römische Zivilisation einen kulturelle Zusammenhang, einen “Kontinent” bildeten.
Durch das Vordringen des Islams im 7. u. 8. Jh. verschob sich diese Kultureinheit in Richtung
Norden über den bisherigen Limes hinaus. Das Mittelmeer bildete jetzt die natürliche Grenze,
welche die drei Kontinente Asien, Afrika, Europa voneinander trennte.
Für dieses sich jetzt auch geographisch abzeichnende Gebilde Europa ist nun aber
kennzeichnend, dass er sich gerade in kultureller Hinsicht nicht einheit lich entwickelte. Mit
der Teilung des römischen Reiches in Ost - und Westrom kam es zu einer zunehmenden
Entfremdung zwischen beiden Reichshälften, die schließlich mit der Kirchenspaltung im Jahr
1054 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Mit der endgültig en Eroberung Konstantinopels
im Jahr 1453 durch die Osmanen verschob sich das kulturelle Gefügte noch einmal. Moskau
tritt nun als drittes Rom auf den Plan. Auch wenn damals der Ural als geographische Grenze
Europas festgelegt wurde, verstand man in kultur eller Hinsicht unter Europa zunehmend nur
mehr die westliche „Lungenhälfte“, wobei dort durch die Kirchenspaltung im Zuge der
Reformation und dann durch die Folgen der französische Revolution noch einmal eine neue
kulturelle Trennlinie aufgerichtet wurde. Europa scheint somit keine homogene Größe zu
darzustellen; vielmehr erscheint es geographisch als ein sehr willkürliches, und kulturell als
ein ausgesprochen gegensatzreiches Gebilde.
Was ist dann Europa wirklich? Gibt es in diesem geographischen Raum trot z allem so etwas
wie eine eigene kulturelle Identität?
Bevor ich auf die diesbezügliche Sicht Ratzingers eingehe, möchte ich kurz auf eine häufig
vertretene Position zu Europa hinweisen, vor deren Hintergrund Ratzingers Ausführungen
vielleicht besser verständlich werden.2
Die meisten Autoren ziehen aus dem eben Dargelegten den Schluss, für Europa sei gerade
kennzeichnend, dass es keine Identität im üblichen Sinne aufweise. Als exemplarisch für
Europa wird deshalb vielfach die Kultur des alten Griechenlands a ngeführt, welches auf
festgefügte Grenzen verzichtete und das Lokale, die Polis als das eigentlich tragende Element
ansah, in dem das Leben pulsierte und auf das sich auch die Politik konzentrierte. Zwischen
den einzelnen Stadtstaaten bestand ein loser Zusammenhang durch Handel und Verkehr.
Auftretende Probleme und Konflikte wurden von Mal zu Mal pragmatisch geregelt. Diese
pragmatische Pluralität herrschte auch auf religiösem Gebiet: Man ging von vielen göttlichen
Mächten aus, die für das Leben relevant si nd. Darüber hinaus hatte jede Polis ihre eigenen
Gottheiten, und man wäre nie auf die Idee gekommen, die Götter der anderen als falsche
Götter qualifizieren. Erst durch das Christentum sei sozusagen das störende Element
eingedrungen, welches dieser vom Lokalen bestimmten kulturellen Vielfalt ein Ende gesetzt
habe. Der emeritierte Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann hat zu dieser Sicht gleichsam
den theoretischen Überbau geliefert, indem er von der „mosaischen Unterscheidung“ sprach:
Durch Moses sei im Bereich der Religion der Gegensatz von wahr und falsch etabliert worden
und habe in der Geschichte eine Blutspur der Gewalt hinterlassen.
Versteht man nun Europa von diesem seinen angeblichen Vorbild in der griechische Poliswelt
her, so folgt daraus: Die Identi tät Europas besteht darin, dass es ein plurales, multikulturelles
Gebilde darstellt, dessen innerer Konstruktionspunkt, dessen „Leitkultur“ im Pluralismus und
in der pragmatischen Suche nach lokalen Lösungen zu sehen ist. Die Frage nach einer
gemeinsamen verbindenden und verbindlichen Grundlage oder gar nach einem Wesen
Europas wäre damit von vornherein fehl am Platz. Europa sei gerade dadurch gekennzeichnet,
dass es gelernt hat, mit Gegensätzen umzugehen und immer wieder nach pragmatischen
Lösungen Ausschau zu halten. Europa sei demnach kein festes Gebilde, sondern eher ein
offener Prozess. Die Frage nach der Wahrheit habe darin keinen Platz, sondern sie sei
kontraproduktiv. Der Rechtspositivist Hans Kelsen hat einmal den Satz geprägt: „Die
Pilatusfrage ‚Was ist Wahrheit?‘ ist die einzig angemessene Haltung im Blick auf die
Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft.“
Es verwundert nicht, dass für die Vertreter dieser Sicht das Christentum innerhalb des
Gefüges Europa als Fremdkörper erscheint und gleichsam die Gegenidentität dazu darstellt,
die es zu neutralisieren gelte. Entsprechend äußerte sich einmal der britische Labour -
Abgeordnete Michael Cashman im Europaparlament in einer Debatte über die Abtreibung:
„Ich habe hier von Religion sprechen hören. Ich bin s ehr traurig […]. Bitte lassen Sie ihre
Religion aus unserem Leben heraus und halten Sie sie heraus aus der Politik. Wenn wir
Politik und Religion trennen könnten, dann wäre die Welt ein sicherer und besserer Ort zum
Leben.“
Wie beurteilt nun demgegenüber R atzinger dieses Gebilde Europa? Für ihn weist Europa –
bei aller Anerkennung der kulturellen Differenziertheit – eine deutlichere Physiognomie auf,
die er ebenfalls aus den geschichtlichen Wurzeln herleitet, die für ihn jedoch nicht allein in
Griechenland liegen.
2. Die ideelle Wurzeln Europas nach Joseph Ratzinger: Judentum/Christentum,
griechische Rationalität, römisches Rechtsdenken und das neuzeitliche Erbe
Wie die Überschrift bereits nahelegt, ist für Ratzinger das Christentum Teil Europas, und er
wertet sein Auftreten im griechisch -römischen Kulturraum keineswegs als Eindringen eines
fremden Elements. Bereits der griechische Mythos von „Europa“, einer phönizischen
Königstochter, die von Zeus nach Griechenland entführt worden war, deute auf ein altes
Wissen hin, dass der Ursprung Europa im Orient liegt. Ratzinger kann deshalb auch dem
angeblichen Gegensatz zwischen Griechenland und dem jüdisch- christlichen Gottesglauben,3
der immer wieder in unterschiedlicher Weise auch von christlichen Theologen konstruiert
wird, nichts abgewinnen, sondern er wertet die Begegnung beider Welten als im positiven
Sinn schicksalhaft für den weiteren Weg Europas.
Ich möchte hier nur zwei Bereiche herausgreifen, in denen die kulturelle Synthese zwischen
Jerusalem, Griechenland und Rom Europa bleibend geprägt hat, und dann noch auf das Erbe
der Neuzeit eingehen.
2.1 Glaube und Vernunft
Ratzinger macht darauf aufmerksam, dass sowohl in Israel als auch in Griechenland ein
Ausbruch aus dem geltenden Ordnungsgefüge erfolgt ist, den er als „Aufklärung“ bezeichnet:
Das alttestamentliche Bundesvolk wagte den Exodus aus der Götterwelt Ägyptens, die im
Grunde eine Vergötterung der menschlichen Gewohnheiten und des politischen Systems
darstellte. Indem es sich an die Wahrheit des einen Got tes band, durchschaute Israel die
Göttergesellschaft als ein „Sklavenhaus“ (Ex 20,2), das den Menschen zum Gefangenen
seiner selbst und des weltlichen Systems macht. Aber auch in Griechenland vollzog sich ein
ähnlicher Prozess: Sokrates stellte in einer Zeit, in der die Polis durch den Relativismus der
Sophisten und der Kyniker zu zerfallen drohte, die Frage nach dem, was der Polis wirklich die
Grundlage gibt, und rückte so ebenfalls die Frage nach der Wahrheit und der Gerechtigkeit in
den Mittelpunkt. Ratz inger spricht deshalb von der „sokratischen Unterscheidung“, die nach
seinem Dafürhalten der „mosaischen Unterscheidung“ entspricht. In beiden Kulturkreisen hat
es also eine Aufklärung gegeben, in der die Wahrheit und damit auch der Logos der Vernunft
über die Relativität der Gewohnheiten gestellt wurden. Er betrachtet deshalb die Begegnung
beider Kulturen nicht als einen bloß zufälligen historischen Vorgang, den man beliebig
rückgängig machen könnte, sondern als ein Werk der Vorsehung. Biblischer Monotheis mus
und griechische Rationalität konnten sich treffen, weil beiden die Frage nach der Wahrheit
wesentlich war. Religion hat seither endgültig etwas mit Vernunft zu tun, und die Vernunft
findet ihre Erfüllung in der Religion. Bezeichnend ist in diesem Zusam menhang, dass das
Christentum auch weiterhin nicht nach einer Ökumene der Religionen gestrebt hat, sondern es
hat bis ins Mittelalter hinein den eigentlichen Gesprächspartner in der griechischen
Philosophie gesehen. Wo deshalb Vernunft und Religion voneina nder getrennt werden,
geschieht dies zum Schaden beider. Davon wird aber noch zu reden sein.
2.2 Religion und Politik – Die Begegnung des Christentums mit der römischen Welt
Im Gegensatz zur Begegnung des Christentums mit der griechischen Welt verlief die
Zusammentreffen mit der damals dominierenden politischen Macht Roms entschieden
konfliktreicher. Hier waren die Anknüpfungspunkte nicht in demselben Maß gegeben, auch
wenn Ratzinger immer wieder auch auf die positiven Impulse verweist, die Europa aus dem
römischen Rechtsdenken empfangen hat. Aber gerade auch die Konfrontation des
Christentums mit der politischen Macht Roms gilt für ihn als schicksalshaft für den Weg
Europas und für seine politische Kultur.
Bis in die Zeit, in der das Christentum auf den Pla n trat, galt eine Trennung von Religion und
Politik generell als undenkbar. Staat und Politik wurden weitgehend religiös legitimiert. Der
Herrscher, der für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen Verantwortung trug, galt
vielfach selbst als Abkömmling der Götter; sein politisches Handeln war göttlich legitimiertes
Handeln.
Dies gilt im Wesentlichen auch für den römischen Staat. Dieser war zwar, was die private
Religionsausübung betraf, weitgehend tolerant. Die Götter der unterworfenen Völker wurden
nicht abgeschafft, sondern einfach dem römischen Götterkosmos einverleibt, so dass sich eine
Vielfalt von Kultformen herausbildete (Isiskult, Mithraskult etc.). Neben diesem
privatreligiösen Bereich gab es aber den Staatskult, der den theologischen Rang des4
römischen Staates und seiner Politik unterstrich. (Kaiser Augustus ließ sich als „Retter“ und
Herr verehren). Die Teilnahme an der öffentlichen Verehrung der Staatsgötter sowie später
am Kaiserkult galt als Zeichen der Loyalität gegenüber dem römischen Staat. Wer sich den
Kulten entzog, erschien als höchst suspekt, da er das öffentliche Wohl gefährdete.
Wie sahen nun dem gegenüber die ‚Christen ihr Verhältnis zum Staat? Für sie war von
Anfang an das Wort Jesu maßgebend, welches in die Richtung einer Trennung von Politik
und Religion weist : „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt
22,21).: Die staatliche Ordnung wird zwar als wichtig erachtet, aber ihr und ihren
Repräsentanten kommt keine göttli che Würde zu. Der Kaiser ist eben nur ein „Geldkaiser“
und kein Gott. Die frühe Kirche lehnte es daher ab, den Staatsgöttern zu opfern und so dem
Staat göttliche Verehrung zuteilwerden zu lassen. Sie waren bereit, für den Kaiser zu beten,
aber nicht zum Kaiser. Dies brachte ihnen den Vorwurf mangelnder Loyalität gegenüber dem
Staat ein, der den Hauptgrund für die sehr bald einsetzende Christenverfolgung abgab. Das
Motiv dafür war immer dasselbe: Es ging um den Bestand und um die Einheit des Reiches,
die man nur dadurch gewährleistet sah, dass der Politik in der Person des Kaiser göttliche
Würde zuerkannt wurde.
Die so genannte „konstantinische Wende“ brachte diesbezüglich keine wesentliche Änderung.
Auch Konstantin, der 313 n. Chr. im Vertrag von Mailand endgültig dem Christentum den
Vorzug gab, ging es in erster Linie um die Reichseinheit. Er setzte jedoch nicht mehr auf die
Staatgötter, an die niemand mehr so recht glaubte, sondern auf das Christentum, das er seinem
politischen Konzept dienstbar machte. Es war Konstantin, der im Jahr 325 n. Chr. das Konzil
von Nizäa zur Wiederherstellung der Einheit der Kirche einberief. Er konnte eine in sich
zerstrittene Kirche nicht gebrauchen.
Ratzinger macht nun darauf aufmerksam, dass nach der endgültigen Teilung des Reiches in
Westrom und Ostrom mit der neuen Hauptstadt Byzanz im Verhältnis zwischen Kirche und
Politik unterschiedliche Wege beschritten wurden. Während im Osten weiterhin der Kaiser
die Oberhoheit über die Kirche beanspruchte und somit Reich und Kirche a ls Einheit
betrachtete – seit dem 6. Jh. führt der Kaiser den offiziellen Titel “König und Priester” –,
setzte sich im westlichen Teil die Trennung beider Bereiche durch. Vor allem nach dem
Untergang des weströmischen Reiches im Jahre 476 n. Chr. trat die e igenständige Stellung
des römischen Bischofs als Oberhaupt der Kirche, die nicht politisch, sondern vom Martyrium
des Petrus in Rom her begründet wurde, immer deutlicher hervor. Mit der Betonung der
getrennten Vollmachten von Kaiser und Papst erhielt das Wort Jesu „Gebt dem Kaiser, was
des Kaisers ist …“ eine konkrete Gestalt. Eindrucksvoll begegnet diese in der so genannten
Zwei-Schwerter-Theorie von Papst Gelasius I. (492- 496 n. Chr.): Die Einheit der Gewalten,
so sagt er, ist ausschließlich in Christus g egeben. Dieser hat aber die Ämter getrennt, damit
keiner sich überhebe. Die damit grundgelegte Trennung der Gewalten war für die folgende
Entwicklung Europas von höchster Bedeutung: Ratzinger sieht in ihr das eigentlich
Abendländische, auch wenn es eines langen, bis in die Gegenwart anhaltenden Ringens um
die richtige Balance bedurfte, bei dem es auf beiden Seiten immer wieder zu Übergriffen kam,
die oftmals zur Quelle von Konflikten wurden – bis heute.
2.3 Das Erbe der Neuzeit
Das neuzeitliche Erbe gehört für Ratzinger ebenso wie das griechische, das römische und das
christliche selbstverständlich zur Identität Europas. Nur sieht er im Blick darauf eine deutliche
Ambivalenz gegeben.
Zum dem, was die Neuzeit im positiven Sinn kennzeichnet, rechnet Ratzinger die
konsequente Trennung von Glaube und Politik, die im Mittelalter eher verdeckt war, die aber
durch die Kirchenspaltung und die darauf folgende Schreckenszeit des Dreißigjährigen
Krieges zur Überlebensfrage wurde. Die Freiheit des Glaubens in der Unterschiedenheit von5
der bürgerlichen Rechtsordnung konnte so eine deutliche Gestalt gewinnen. „Die für die
christliche Weltsicht grundlegenden humanen Werte ermöglichen die freie humane
Gesellschaft, in der das Recht des Gewissens und mit ihm die menschlichen G rundrechte
gesichert sind.“ In ihr können unterschiedliche Ausprägungen des christlichen Glaubens und
unterschiedlichen politischen Positionen koexistieren, die aber doch in einem zentralen
Wertekanon kommunizieren.
Diese positive Wertung betrifft nach Rat zinger aber nur eine Seite der neuzeitlichen Wende.
Sie hat für ihn noch ein anderes Gesicht, als dessen Inbegriff er die vollkommen
autonomisierte Vernunft betrachtet. In dieser totalen Emanzipation der Vernunft vom
christlichen Erbe sieht er den eigentli chen Sündenfall Europas, der weitere Sündenfälle nach
sich gezogen hat.
3. Die Sündenfälle Europas
3.1 Die autonomisierte Vernunft
Die autonome Vernunft ist für Ratzinger zwar als Produkt des europäischen Geistes, zugleich
wertet er sie „als post -europäisch, ja anti -europäisch […], als die innere Zerstörung dessen,
was nicht nur für Europa konstitutiv, sondern überhaupt Voraussetzung einer humanen
Gesellschaft ist.“ Der Sündenfall besteht für ihn darin, dass die den Menschen gemeinsame
Vernunft radikal auf jenen Bereich begrenzt wird, der dem wissenschaftlichen Denken
entspricht und in welchem folglich die Frage nach Gott ausgeblendet ist. So sehr Ratzinger
die wissenschaftliche Rationalität als eine großartige Leistung würdigt, so erscheint sie ihm
aber in der Verabsolutierung als zerstörerisch.
Eng verbunden mit der autonomen, wissenschaftlichen Vernunft erscheint ihm der Gedanke
der Freiheit im Sinne der autonomen Selbstbestimmung. Auch hier erscheint die Freiheit von
ihrem christlichen Grund abgelöst; sie ist nicht mehr Freiheit, die sich letztlich als von Gott
geschenkt erfährt, sondern Freiheit, die gerade nicht von der Gnade eines anderen leben will
(Karl Marx), sondern sich ausschließlich selbst bestimmt.
Die negativen Konsequenzen dieses Freiheitsvers tändnisses zeigen sich gerade im Bereich
des ethischen Handelns. Auf der Grundlage einer Vernunft, die über und außerhalb ihrer
selbst keine Instanz anerkennt, setzt der Mensch die Ziele dessen, was gut ist, selbst. Die
Ethik verkommt dadurch zum Kalkül, das als Kriterium nur noch die Nützlichkeit im Blick
auf diese Ziele kennt.
Für Ratzinger zeigen sich die Folgen der Trennung von Vernunft und Glaube gerade auch
darin, dass an die Stelle des Gottesgedankens pseudorationale Mythisierungen treten: So wird
etwa die christliche Hoffnung durch den Gedanken des Fortschritt ersetzt, der ebenfalls dem
wissenschaftlichen Denkmodell entnommen ist. So wie Wissenschaft und Technik
unaufhörlich voranschreiten, so geschieht es auch im Blick auf die menschliche Freiheit.
Indem man das Zusammenleben und den Staat rein auf die Rationalität und den freien
Bürgerwillen gründet, stellt sich, so ist man überzeugt, gleichsam von selbst der Fortschritt in
der Humanität ein.
Die Übertragung des Fortschrittsgedankens auf den Bereich der Humanität hat für Ratzinger
zur Folge, dass der Mensch letztlich seine Freiheit aufgibt. Er braucht sich nur noch in den
Trend des Fortschreitens der Humantität einzufügen und kann auf diese Weise auf das eigene
Sittlichsein und auf das Hören auf sein Gewissen verzichten. Letztlich läuft das Ganze auf
eine Aufkündigung des Menschseins und der menschlichen Freiheit hinaus, deren Folgen
unabsehbar sind.
Die Verdrängung der Gottesfrage zog und zieht nach Ratzinger weitere Mythisierungen nach
sich, die die Stelle des „Höchsten Guts“ (summum bonum) einnehmen. Zwei von diesen6
weiteren „Sündenfällen“ Europas seien noch herausgegriffen.
3.2 Der Nationalismus.
An die Stelle Gottes rückt als das „summum bonum“ die Nation. Sie wird zum eigentlichen
Träger der Geschichte - so zum ersten Mal in der Zeit der Französischen Revolution. Mit der
mythischen Überhöhung der eigenen Nation verbindet sich zugleich ein Sendungsbewusstsein
gegenüber der gesamte Menschheit – man denke nur an die Bewegungen des Panslawismus
über die verschiedenen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts bis hin zum „deutschen
Wesen, an dem die Welt genesen“ sollte. Ratzinger vermag in diesen nationalistischen
Tendenzen nichts anderes zu erkennen als die Radikalisierung eines primitiven archaischen
Tribalismus, der sich eben religiös aufgeladen gibt und in der Verbindung mit dem
Fortschrittsglauben zur Menschheitsbedrohung geworden ist und wird.
3.3 Die marxistische Ideologie
Die radikalste Form der Verbindung von wissenschaftlicher Rationalität, For tschrittsglauben,
und Mythos, diesmal in der Gestalt des politischen Messianismus, stellt für Ratzinger jedoch
die marxistische Ideologie dar. Das „summum bonum“ erscheint hier zunächst ausdrücklich
als Negation, als totale Absage an die bisherige Welt und als Weltrevolution. Das Bisherige
gilt als der Unwert schlechthin und die Revolution eben deshalb als der Wert schlechthin. Aus
der Negation der Negation soll die totale Positivität hervorgehen, die neu zu schaffende Welt.
Aufgrund dieser radikalen Leugnung der Herkünftigkeit der Welt und des Menschen wertet
Ratzinger den Marxismus als die radikalste Antithese nicht nur zum Christlichen, sondern
auch zu der vom Christentum geprägten Geschichtsgestalt. Er ist die entschiedenste Absage
an Europa.
Man könnte nun einwenden, Marxismus und Kommunismus seien Phänomene, die sich selbst
ad absurdum geführt haben und damit der Vergangenheit angehören. Ratzinger warnt jedoch
vor dem naiven Glauben, diese Ideologie sei nach dem Scheitern des Kommunismus einfach
überwunden. Zum einen besteht die Katastrophe, die sie hinterlassen hat, weiterhin fort: in der
Verwüstung der Seelen und in der Zerstörung des moralischen Bewusstseins - man denke nur
an den Trend zum Rechtsradikalismus in den Ländern des ehemaligen Ostblocks oder an die
Mutation ehemaliger kommunistischer Kaderleute zu Turbokapitalisten. Zum anderen übt die
Grundidee, die hinter der marxistischen Ideologie steht, immer noch eine fast magische
Faszination aus: Es ist eben die Idee der aufgeklärten, wissenschaftli chen Vernunft, von der
die ständige Aufwärtsentwicklung erwartet wird, verbunden mit der Absage an das religiöse
Erbe der Vergangenheit. Die Menschheit schreitet unaufhörlich voran zum Besseren hin,
wobei die Dynamik des Fortschritts das eine Mal eher vom freien Spiel der Kräfte, des andere
Mal von einem regulierenden Eingreifen erwartet wird, dessen Ziele und Maßstäbe sich auf
wissenschaftlichem Weg gewinnen lassen. Das christliche Erbe wird dabei als Ballast
empfunden, der für das schlechthin Negative in der Geschichte steht und den es endlich
abzuschütteln gilt.
Ratzinger konstatiert hinter diesem Trend eine seltsame Gemengelage von Streben nach
Emanzipation und Autonomie auf der einen, und einem extremen Moralismus auf der anderen
Seite, wie er heute in den verschiedenen Forderungen der Political Correctness hervortritt.
Diese werden bisweilen geradezu militant propagiert und durchgesetzt: wie im extremen
Pazifismus oder im Gedanken der Toleranz, der sich zur „Diktatur des Relativismus“ steigert.
In der gleichzeitigen radikalen Absage an die Vergangenheit diagnostiziert Ratzinger einen
„merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das
sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und
Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag.“
Nach Ratzinger besteht also die vom Marxismus hinterlassene Problematik fort, und er gibt zu7
bedenken, dass der Verlust einer Ideologie sehr leicht in den Nihilismus münden kann, der
wiederum den Keim zur Diktatur in sich trägt. Ein solches „wachsendes Gefalle zum
Nihilismus“ zeigt sich für ihn im „Relativismus, dem wir heute alle ausgesetzt sind“.
4. Der Anspruch der europäischen Zivilisation auf universale Geltung
Das eigenartige Gemisch aus Selbsthass und Überheblichkeit, das die genannten Sündenfälle
Europas kennzeichnet, erhält seine besondere Brisanz noch dadurch, dass Europa seine
Zivilisation in andere Länder exportiert hat und noch exportiert. Es ist die Kultur der
wissenschaftlichen Rationalität, die Gott aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt und die
sich gerade deshalb als vernunftgemäß und universalisierbar hält. Sie prägt und uniformiert
heute die ganze Welt.
Die Ambivalenz dieser Zivilisation tritt in den außereuropäischen Ländern noch verstärkt zu
Tage. Man hat dort zunächst die wirtschaftlichen Segnungen, die Europa brachte, dankbar
angenommen. Übernommen hat man auch die Absage an das Christentum und mit ihr die
Absage an die Zusammengehörigkeit von Ver nunft und Religion. Auf die Dauer konnte
jedoch eine Zivilisation, die sich der religiösen Wurzeln entledigt und sie „zur Kloake erklärt“
nicht überzeugen. Sie wurde in den Ländern der Dritten Welt zunehmend als Angriff auf die
eigene kulturelle Identität empfunden.
So vollzog sich in vielen Ländern ein Prozess der Repaganisierung der Religion in Gestalt der
Rückkehr zur vorchristlichen Religiosität und den vielfältigen Formen der Magie. Zugleich
machte sich aber auch ein Zorn gegen die westliche Welt insgesamt breit, in dem Ratzinger „ein
tieferes Verletztsein“ mitschwingen sieht: Nämlich „das Bewusstsein, dass einem die eigene
Seele zertrampelt worden ist, dass man im Innersten verletzt wurde.“
So deutet Ratzinger auch die Renaissance des Islams im Sinne eines „neu gewachsene[n]
Selbstbewusstsein[s], dass der Islam eine tragfähige geistige Grundlage […] zu bieten
vermöge, die dem alten Europa abhandengekommen zu sein scheint, das seine religiösen und
sittlichen Grundlagen verneint.“
Das alles führt Ratzinger nun zur grundlegenden Frage:
Ist die aus der europäischen Aufklärung hervorgegangene Kultur wirklich die
universale Kultur der gemeinsamen Vernunft aller Menschen?
Seine Antwort lautet: Sie ist nicht die Stimme der Vernunft selbst, sondern selbst kultur ell
gebunden und damit partikular. Sie gründet auf einer Selbstbegrenzung, auf einer Amputation
der Vernunft, die bewusst die eigenen historischen Wurzeln kappt und sich damit der
Quellkräfte beraubt, aus denen sie selbst entspringt.
Im Blick auf den Dialog der Kulturen gibt Ratzinger deshalb zu bedenken: Eine Vernunft, die
Gott ausklammert, hat keine Chance im Dialog der Kulturen. Den anderen Kulturen ist die
absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Er meint
deshalb: „Der eigentliche Gegensatz, der die Welt heute durchzieht, ist nicht der zwischen
[…] verschiedenen religiösen Kulturen, sondern zwischen der radikalen Emanzipation des
Menschen von Gott, von den Wurzeln des Lebens einerseits und den großen religiösen
Kulturen andererseits.“ Weiter führt er aus: „Wenn es zu einem Zusammenstoß der Kulturen
kommt, so wird er nicht der Zusammenstoß der großen Religionen sein, die immer schon im
Ringen miteinander standen und dabei immer auch gefehlt haben, aber letztlich auch einander
bestehen ließen, sondern es wird der Zusammenstoß zwischen dieser radikalen Emanzipation
des Menschen und den bisherigen Kulturen sein, die um Werte wussten und wissen, die aus dem
Ewigen kommen und nicht zur Disposition unserer Wünsche stehen.“8
Für Ratzinger ist deshalb der Optimismus im Sinne des Siegs des Europäischen und seiner
Wertewelt heute überholt. Zugleich sieht er Europa auch ethnisch auf dem Weg der
Verabschiedung. Europa ist geprägt von einer Unlust an der Zukunft, die sich u. a. darin
äußert, dass Kinder nicht als Hoffnung, sondern als Bedrohung der Gegenwart empfunden
werden.
5. Die Konsequenzen für den künftigen Weg Europas?
5.1 Worauf soll sich ein zukünftiges Europa gründen?
Meist wird in Bezug auf diese Frage die Alternative genannt: Aufklärung oder Christentum.
Wie aber deutlich geworden ist, greift für Ratzinger diese Alternative zu kurz; Kennzeichnend
für Europa ist gerade die Einheit von Vernunft und Religion. Zerfällt di ese Einheit, so
geschieht das zum Schaden beider. Sie führt zu einer Pathologie der Religion: Eine Religion,
die sich der Vernunft verschließt, wird irrational und gewalttätig. Sie hat aber auch eine
Pathologie der Vernunft zur Folge: Eine Vernunft, die für Gott blind ist, beraubt sich ihres
eigenen Fundaments und nimmt selbst pseudorationale Züge an.
Aus dieser Einsicht heraus rät Ratzinger beide Seiten - die Religion und die Aufklärung - zur
Selbstbesinnung und auch zur Selbstkritik:
Das Christentum hat sich von Anfang an als Religion des Logos, als vernunftgemäße Religion
verstanden. […] Es war und ist Verdienst der Aufklärung, die ursprünglichen Werte des
Christentums, die zum Teil verdunkelt waren, wieder in Erinnerung gerufen und der Vernunft
ihre S timme zurückgegeben zu haben. Das Christentum muss sich deshalb immer daran
erinnern, dass es die Religion des Logos ist. Christen müssen darauf achten, den Glauben so
zu leben, dass er der schöpferischen Vernunft, aus der er entstammt, entspricht und dahe r
auch gegenüber allem, was wirklich vernünftig ist, offen ist. - Dies war auch der Grundtenor
der Regensburger Rede Papst Benedikts, der vielfach nicht wahrgenommen worden ist. Er
richtet sich an alle Religionen und ruft in Erinnerung, dass der Glaube an Gott eigentlich nicht
erst von außen dadurch zur Vernunft gebracht werden muss, dass man die von den Relgionen
ausgehende Gewalt anprangert, sondern dass die Vernunft dem Gottesglauben selbst
immanent ist. Gewalt ist gegen den Glauben an Gott, weil sie ver nunftwidrig ist, und Gott ist
ein Gott der Vernunft.
Umgekehrt muss sich das aus der Aufklärung hervorgegangene Vernunftverständnis die Frage
gefallen lassen, ob eine Vernunft, die für die Frage nach Gott blind ist, eine Lösung unserer
Probleme sein kann. Dies würde ja letztlich bedeuten, dass wir einer Vernunft folgen, die
selbst aus dem Unvernünftigen hervorgegangen ist und somit nur ein zufälliges,
bedeutungsloses Nebenprodukt im Ozean des Unvernünftigen darstellt. Der christliche
Glaube erinnert hingegen daran, dass am Anfang von allem nicht die Unvernunft, der
„dumme Zufall“ steht, sondern der Logos, aber auch nicht irgendein Logos, sondern jener, der
sich den Menschen geoffenbart und gezeigt hat. Die Vernunft bedarf der Offenbarung, um zu
sich selbst zu finden.
Für Ratzinger geht es also letztlich nicht um die Frage Vernunft oder Religion, sondern um
die Frage, welche Form der Vernunft weiterhin für die Einheit Europas prägend sein wird: Ist
es die in sich verschlossene, positivistisch orientierte Vernunft, oder ist es die Vernunft, die
sich zu ihren geistigen Wurzeln bekennt und auf Gott hin offen ist. Entsprechend sieht er auch
Europa im Blick auf seine Rolle in der Welt vor die Alternative gestellt: Verschließt es sich
in einen Eurozentrismus im nega tiven Sinne, oder will es im Dialog der Kulturen
anschlussfähig bleiben. Ratzinger fordert eine Haltung der Demut der eigenen Vergangenheit
gegenüber, die das Negative in ihr nicht leugnet, zugleich aber auch den positive Beitrag, den
Europa geleistet hat, dankbar anerkennt. Nur so kann Europa eine positive Rolle in der Welt
spielen.9
5.2 Die künftige politische Gestalt Europas
Im Blick auf die Frage, wie die Einheit Europas politisch gestaltet werden soll, erinnert
Ratzinger an das so genannte Böckenförde -Theorem: Der Staat muss einerseits
weltanschaulich neutral bleiben. Auf der anderen Seite ist der Staat zu seiner eigenen
Fundierung und Erhaltung auf andere Mächte und Kräfte angewiesen“, anders gesagt: er lebt
von Voraussetzungen, „die er selbst nicht gar antieren kann.“ Das heißt: Es gibt
„Unverzichtbares“ für die pluralistische Demokratie, das nicht im politischen Bereich
angesiedelt ist. Ein Staat, der in sich vollkommen sein will, wird entweder orientierungslos
oder tyrannisch.
Ratzinger fragt nun: Wie kann Christentum, ohne sich politisch instrumentalisieren zu lassen
und ohne umgekehrt das Politische für sich zu vereinnahmen, zu einer positiven Kraft für
dieses werden.
Wie bereits deutlich geworden ist, hat die Trennung von Religion und Politik ihren U rsprung
im Christentum, welches von Anfang an sowohl einen politischen Messianismus als auch eine
Theologisierung der Politik und des Staates abgelehnt hat. Es hat von Anfang an darauf
bestanden, das Politische in der Sphäre der Rationalität zu belassen und es nicht theologisch
aufzuladen. Es hat so im Bereich der Politik die Annahme des Unvollkommenen gelehrt und
ermöglicht.
Wohl aber kennt das Christentum von Anfang an eine politische Ethik. Bei aller Pluralität
bezüglich der möglichen Wege des politische n Handelns muss dieses von einer ethischen
Grundhaltung getragen sein. Wo das nicht der Fall ist, „wo Moral als überflüssig erklärt wird,
wird Korruption zur Selbstverständlichkeit und Korruption korrumpiert die Staaten wie die
einzelnen zugleich.“
5.3 Die Beitrag des Christentums
Ratzinger sieht nun den Beitrag des Christentums zu einer politischen Ethik nicht nur in der
Propagierung so genannter „christlicher Werte“, sondern vor allem in der Weckung des
Gewissens. Der Glaube muss immer wieder neu das Gewissen wecken. Humanität und
Freiheit sind nicht etwas, das einfach da ist, sondern sie müssen in jeder Generation neu von
innen heraus gewonnen werden. Natürlich muss es ethische Standards geben. Aber diese
begründet sich nicht von selbst. Er meint: „[…] da s aufgeklärte Ethos, das unsere Staaten
noch zusammenhält, lebt von der Nachwirkung des Christentums, das ihm die Grundlagen
seiner Vernünftigkeit und seines inneren Zusammenhangs gegeben hat.“ Wo der christliche
Boden völlig weggezogen wird, hängt dieses Ethos praktisch in der Luft und zerfällt
allmählich. (Wenn die Sonne untergegangen ist, wird es nicht gleich dunkel).
Welche aus dem christlichen Erbe stammenden ethischen Standards dürften in einem
künftigen Europa nicht fehlen, wenn es mehr sein sollte a ls eine bloße Eurozone, eine
wirtschaftliche Interessensgemeinschaft?
- Menschenwürde und Menschenrecht müssen als unbedingte Werte festgehalten werden, die
jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen. Ratzinger sieht ein Problem darin, dass dort, wo
die Gültigkeit nicht mehr im Glauben an den Schöpfer verankert ist, ihre Überzeugungskraft
zu schwinden droht. Er verweist etwa auf die Frage der Embryonenforschung, für deren
Rechtfertigung immer “gute Zwecke” vorgebracht werden.
- Ehe und Familie . Die monogam e Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des
Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung
vom biblischen Glauben her geformt worden.
- Im Blick auf den religiöse Bereich: die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist, und
die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, vor Gott. Diese sei sehr wohl auch demjenigen10
zumutbar, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist. Wo diese Ehrfurcht zerbrochen wird,
geht in einer Gesellschaft Wesentliches zugrunde.
5.4 Wege der Rückkehr zu den christlichen Wurzeln
Ratzinger ist sich ganz und gar dessen bewusst, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt Die
Rückkehr zu den christlichen Wurzeln kann nicht einfach per Dekret verordnet werden, wenn
sie von den Menschen nicht zugleich von innen heraus gewollt ist.
Die Frage lautet also: Wie lässt sich die Forderung nach grundlegenden Werten, die in der
christlichen Überlieferung wurzeln, mit der Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen
Neutralität vereinbaren?
Ratzinger sieht in dieser Frage den eigentlichen „neuralgischen Punkt“, den er in seinen
Schriften unter unterschiedlichen Aspekten reflektiert.
1. Die bleibende Spannung zwischen dem christlichen Anspruch und der Verpflichtung des
Staates zur Neutralität
Der Staat ist in religiösen Dingen zur Neutralität verpflichtet. Auf der anderen Seite kann sich
das Christentum nicht einfach darauf beschränken, sich wie irgendein privatrechtlicher Verein
zu Wort zu melden. „Der Rückzug ins Private, diese Einordnung ins Pantheon
[Götterhimmel] aller möglichen Wertsysteme widerspricht dem Wahrheitsanspruch des
Glaubens, der als solcher ein Öffentlichkeitsanspruch ist.“ Er bringt zum Ausdruck, dass es
etwas gibt, das über dem Staat steht. Ratzinger spricht in diesem Zusammenhang von einer
„Aporie“, die sich nicht aufläsen lässt: „Wenn Kirche diesen Anspruch aufgibt, bewirkt sie
gerade auch für den Staat nicht mehr, was er von ihr braucht. Wenn der Staat ihn aber
annimmt, hebt er sich als pluralistischer auf und dabei verlieren dann S taat und Kirche sich
selbst.“ Er meint, dass gerade auf dieser Balance zwischen diesen beiden Grenzmöglichkeiten
die Freiheit der Kirche und die Freiheit des Staates beruhen würden.
2. Die Gründerväter: Adenauer, Schumann, de Gasperi:
Ratzinger verweist in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf die Gründerväter
Europas, bei denen er die Balance beispielhaft verwirklicht sieht.
Sie haben nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sich
für eine ausgesprochen sachliche, auf Vernunftgründen basierende Politik verständigt; Der so
genannte „Schumanplan“ enthält nirgenwo eine religiöse Begründung. Zugleich war für die
Gründerväter ihr gemeinsamer christlicher Glaube die Grundlage ihres politischen Handelns,
die in den konkreten Sc hritten zur Versöhnung ihren Ausdruck fand. Dieser im Christentum
verwurzelte Wille zur Versöhnung hat sie dazu inspiriert, gerade jene Bereiche zum Ort der
Versöhnung werden zu lassen, der immer wieder der Anlass des Konflikts war: Die Bereiche
Eisen, Stahl und Kohle, die damals in der Montanunion vergemeinschaftet wurden.
3. Der Vorschlag an die Laizisten
Die Aufklärung hat ein Vernunftverständnis etabliert, welches sie deshalb als für alle
Menschen gültig und gemeinsam hielt, weil es den Bereich der Reli gion, der immer wieder
Anlass zu Konflikten gab, ausgeklammert hat. Es sollten Werte und Normen gefunden
werden, die gültig sind, auch wenn Gott nicht existiert (etsi Deus non daretur) . Die
gemeinsame Grundlage bildet somit die atheistische Vernunft. Diese r weitgehend als
einsichtig empfundene Grundsatz konnte nach Ratzinger so lange funktionieren, als die vom
Christentum geschaffenen Grundüberzeugungen noch weiterhin unbestreitbar erschienen.
Aber dem ist nicht mehr so. Der Versuch, die menschlichen Dinge unter Absehung von Gott
zu gestalten, führt uns immer näher an den Rand des Abgrunds.
Er fragt sich deshalb, ob es gerechtfertigt ist, den Atheismus als methodischen Ausgangspunkt11
für ein gemeinsames Ethos beizubehalten. Wäre es nicht sinnvoller zu sagen – und das ist sein
Vorschlag auch an die Laizisten: Alle sollen so leben und ihr Leben so ausrichten veluti si
Deus daretur, als ob es Gott gäbe?
4. Der Rat an die Kirchen
Den Kirchen gibt er den Rat, sich „ sich nicht zu einem bloßen Mittel der Moralisieru ng der
Gesellschaft degradieren [zu] lassen, noch weniger sich durch die Nützlichkeit ihrer
Sozialwerke rechtfertigen wollen.“ Sie sollten zunächst einmal wirklich sie selber sein; J e
mehr sich die Kirche vor allem als Institut sozialen Fortschrittes versteht, desto mehr
trocknen die sozialen Berufungen aus […], die so sehr in Blüte standen, als der Blick noch
wesentlich auf Gott gerichtet war. Das Wort Jesu „Sucht zuerst das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit, alles andere wird euch dazu gegeben" ( Mt 6, 33) bewahrheitet sich hier
sozusagen rein empirisch.
Zugleich appelliert er an die Kirche: Sie muss sich verständlich machen; „Sie muss
überzeugen, denn nur, indem sie Überzeugung schafft, öffnet sie den Raum für das, was ihr
übergeben ist, und imme r nur auf dem Weg der Freiheit, das heißt über Verstand, Wille
und Gefühl zugänglich werden kann. Die Kirche muß leidensbereit sein, nicht durch
Macht, sondern durch den Geist, nicht durch institutionelle Stärke, sondern durch Zeugnis,
durch Liebe, Leben, Leiden dem Göttlichen den Raum bereiten und so der Gesellschaft
helfen, ihre moralische Identität zu finden.
5. Die schöpferischen Minderheiten
So sehr Ratzinger immer wieder die Notwendigkeit gesehen hat, an das gemeinsame
christliche Erbe Europas zu erinnern, so war und ist er doch auch Realist genug, um zu sehen,
dass sich mit Appellen allein nur begrenzt etwas bewegen lässt. Er beruft sich deshalb auf den
englischen Kulturtheoretiker Arnold Joseph Toynbee, der sich einmal dahingehend geäußert
hat, dass das Schicksal einer Gesellschaft immer wieder von schöpferischen Minderheiten und
Einzelpersönlichkeiten abhängt. Ratzinger meint nun: Die gläubigen Christen sollten sich als
eine solche schöpferische Minderheit verstehen und dazu beitragen, dass Europa da s Beste
seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient. Große Hoffnung setzt er
dabei auf junge Bewegungen, in denen eine große Kraft des Glaubens wirkt, eine überzeugende
sittliche Ernsthaftigkeit und eine Bereitschaft, das eigene Leben einzusetzen.
6. Menschen wie Benedikt von Nursia
In seiner letzten Rede als Kardinal in Subiaco wird Ratzinger noch konkreter, wenn er sagt:
„Was wir in dieser Stunde vor allem brauchen, sind Menschen, die Gott durch einen
erleuchteten und gelebten Glauben glaub-würdig machen in dieser Welt. […] Nur über
Menschen, die von Gott berührt sind, kann Gott wieder zu den Menschen kommen. Wir
brauchen Menschen wie Benedikt von Nursia […]“. Diese Rede hat er am 4. April 2005
gehalten. Zwölf Tage später war er selbst Papst Benedikt XVI. Es bleibt zu hoffen, dass seine
Appelle und sein Wirken Früchte tragen.
Dr. Josef Zöhrer / Freiburg