Etty Hillesum - Zeugnis einer Menschlichkeit auf der Demo
Von Hubert Keßler
Wir hören heute Textpassagen aus dem Tagebuch- „Das denkende Herz“ von Etty Hillesum, einer jungen Frau aus Holland, näher hin Amsterdam. Wie von Anne Frank ist auch von ihr ein Tagebuch überliefert.
Warum lesen wir aus ihrem Tagebuch, das eigentlich mehr als ein Tagebuch ist. Es ist eine Entdeckung und Erschließung des Lebens, ein Nachdenken über das Leben wie es sich in ihr als Mensch entfaltet und wie es sich in uns allen entfalten kann.
Wenn man ihr Tagebuch, „Das denkende Herz“, liest, schlägt man es verändert zu.
In ihr begegnen wir dem Menschen Etty Hillesum, der jungen, vorbildlichen Frau, die in Auschwitz wie Tausende andere ihr Leben lassen musste und kurz vor ihrer Ermordung im Durchgangslager Westerbork schreiben konnte:
Im Juni 1942: „Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welche Rasse oder welchen Volkes in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht sogar zu Liebe werden könnte. … Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben…“
Wir wollen diesem Fest für Menschlichkeit, ein Zeugnis einer Menschlichkeit an die Seite zu stellen. Darum ist es eine wunderbare Fügung, dass Anna Schönknecht, die ein Jahr im Auftrag der Erzdiözese Shalomdienst in Israel gemacht hat und eben erst von einem Seminar aus Israel kommt, die Texte von Etty Hillesum für uns liest:
Etty schreibt:
“Es ist kein Dichter in mir, es ist nur ein Teilchen von Gott in mir, das zum Dichter heranwachsen könnte. …. Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber oft sagten: ‘Wir wollen nicht denken’, ‘wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt’, dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Laß mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein.”
In diesem von ihr geprägten und von ihr gelebten Begriff vom “denkenden Herzen”, offenbart sich ihre gute und reife Seele und Lebenseinstellung. Ein Mensch, wie ihn die Welt in der Tiefe - auch und gerade heute noch - so notwendig braucht.
In ihr begegnen wir dem Mensch – dem denkenden und mitfühlendem Menschen, der von den Nationalsozialisten von Grund auf gehasst wurde. Diese wollten keinen reflektierenden Menschen – nur den funktionierenden und herrischen Menschen.
Die Musik aus dem Film „Schindlers Liste“ , von Herrn Glasstätter im Hintergrund gespielt, hilft uns, den Wunsch und damit das Vermächtnis Etty Hillesums aufzunehmen:
Hören wir sie selbst:
„Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, …nehme ich als ein Ganzes hin, und beginne immer mehr zu begreifen, …wie alles zusammenhängt. Ich möchte lange leben, um es später doch noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und deshalb muß ich es so gut und so überzeugend weit möglich weiterleben bis zum letzten Atemzug, so dass derjenige, der nach mir kommt, nicht ganz von neuem anfangen muss und es nicht mehr so schwer hat. Tut man damit nicht auch etwas für die nachkommenden Geschlechter?
Ihre letzten schriftlichen Worte stammen von einer Postkarte, die ein Bauer neben den Eisenbahnschienen auf freiem Feld außerhalb von Nieuwenschans. ..Ein Text in einer engen, runden Schrift lautet.
„Ich schlage die Bibel aufs Geratewohl auf und finde dies: ‚Der Herr ist mein Hort‘. Die Abreise kam trotz allem unerwartet. Wir haben das Lager singend verlassen. Auf Wiedersehen!“
Etty Hillesum hatte die Nachricht aus dem Waggon Nummer 12 des Zuges geworfen,
Etty Hillesum war eine junge Frau, die sich - selbst in einer feindseligen Situation, - den Blick auf das Menschliche bewahrte: Am 27. Februar 1941 schreibt sie:
Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer noch mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äußerung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir das möglich ist. Und das war wieder ein historischer Moment an diesem Morgen: nicht dass ich von einem unglücklichen Gestapoburschen angeschrien wurde, sondern dass ich darüber keineswegs entrüstet war und eher Mitleid mit ihm hatte, so dass ich ihn am liebsten gefragt hätte: war deine Jugend denn so unglücklich, oder hat dein Mädchen dich betrogen? Er sah gequält und aufgeregt aus, übrigens auch recht unangenehm und schlapp. Am liebsten hätte ich ihn gleich in psychologische Behandlung genommen, wobei mir sehr stark bewusst war, dass solche Burschen nur bedauernswert sind, solange sie nichts Böses anrichten können, aber lebensgefährlich, wenn sie auf die Menschheit losgelassen werden. Verbrecherisch ist nur das System, das sich dieser Kerle bedient. Und wenn vom Ausrotten die Rede ist, dann sollte das Böse im Menschen und nicht der Mensch ausgerottet werden.
… Beängstigend ist, dass die Systeme über die Menschen hinauswachsen und sie in ihren satanischen Griff bekommen, und zwar die Erfinder und die Opfer der Systeme gleichermaßen, wie große Gebäude und Türme, von Menschenhand gebaut, uns überragen und beherrschen, aber auch über uns zusammenstürzen und uns begraben können.
Eine mutige Frau, die sich nicht so sehr wegen irgendwelcher spektakulärer Aktionen auszeichnete, sondern ihrer Zivilcourage und ihrer Mitmenschlichkeit wegen, die sie in ihrem Alltag lebte. Sie begleitete freiwillig ihr Volk in die Lager und letztlich in die Gaskammern. Freunde von ihr hatten noch durch eine Entführung versucht, sie davon abzubringen.
Jene obengenannten Tagebücher, die von ihr geblieben sind, sprechen von einem zugleich glutvollen und ausgesprochen feinfühligen Menschen von außergewöhnlich schnell wachsender Reife. Von einem Menschen, der trotz wachsender Gefahr und zunehmenden Grauen zum Schluss kommt, dass der Mensch liebenswert ist. Diese Hoffnung prägt ihre Tagebucheinträge, auch wenn sie das Unheil, das sie kommen sieht, für unabwendbar hält. Ein erstarkender Glaube macht ihr die Wege leichter.
Hören wir, was sie selber sagt (3. Juli 1942):
Ach, wir tragen ja alles mit uns, Gott und den Himmel, Hölle und Erde, Leben und Tod und Jahrhunderte, viele Jahrhunderte. Die Kulissen und die Handlung der äußeren Umstände wechseln. Aber wir tragen alles in uns, und die Umstände sind nicht entscheidend, niemals, da es immer Umstände gibt, gute oder schlechte, und mit der Tatsache, dass es gute und schlechte Umstände gibt, muss man sich abfinden, was nicht hindert, dass man sein Leben für die Verbesserung der Umstände einsetzt. Aber man muss sich im Klaren darüber sein, aus welchen Motiven man den Kampf aufnimmt, und man muss bei sich selbst anfangen, jeden Tag von neuem bei sich selbst.
Überlebende der Lager haben später berichtet, daß Etty bis zuletzt eine ’leuchtende Persönlichkeit’ gewesen ist.
Welch Vorbild einer Haltung, die sich von Nichts und Niemand Ihre Freiheit hat nehmen lassen.
Etty Hillesum erwähnt den Krieg erstmals eine Woche nach ihrem ersten Tagebucheintrag. Auffallend dabei ist ihre tiefe Besorgnis darüber wie tiefgehend ihre Freunde die Deutschen hassen. Dies ist erstaunlich wenn man davon ausgeht, dass die meisten Opfer sich natürlich innerlich instinktiv gegen die Deutschen wandten und in diesem Stadium nicht unbedingt Selbstkritik an ihren Gefühlen von Abneigung und Hass übten. Etty dagegen beobachtet die Entwicklungen in einem viel weiteren Kontext und schreibt in einer Zusammenfassung am Ende dieses frühen Eintrags in ihr Tagebuch:
“Was ich damit sagen will ist folgendes: Die Nazi Barbarei erweckt in uns eine vergleichbare Tendenz. Hätten wir dieser Tage die Möglichkeit dazu, wir würden die gleichen Methoden anwenden. Wir müssen diese Barbarei im Herzen ablehnen, wir dürfen diesen Hass nicht in uns kultivieren, weil es nicht helfen wird diese Welt wieder aus dem Abgrund zu ziehen.”
Gideon Greif, ein israelischer Historiker schreibt über sie:
„Die Art, in der Etty Hillesum die Verfolgung, die Erniedrigung, den Mord der Deutschen an den Juden betrachtet, kann als moralischer Sieg dieser Jüdin über ihre Verfolger gesehen werden. Ihre Seele haben sie nicht verletzen können, ihre menschlichen Werte nicht vernichtet, ihre Würde als Mensch und als Jüdin und ihren Glauben an die Menschen – das konnten die Deutschen ihr nicht nehmen.
Ihr Tagebuch schildert den Sieg des Guten über das Böse, einen Sieg ohne Waffen, basierend auf innerer Stärke und Überzeugung und auf dem Glauben an das Gute, das absolut Gute, das sogar die Nationalsozialisten nicht ausrotten konnten, obwohl sie sich sehr bemüht hatten.
Gerade vor dem düsteren Hintergrund der Epoche sind Weltanschauung und Lebensphilosophie von Etty Hillesum ein Lichtblick. Das macht ihre Tagebücher zu einem unvergleichbaren Dokument für jeden – ob jüdisch oder nicht jüdisch, religiös oder säkular, jung oder alt.“ (online; http://www.suesske.de/greif_hillesum.htm)
Zitate aus: Das denkende Herz, rororo Verlag / Taschenbuch 557