Die Freiheit und das Glück
Von Hubert Keßler
Eine Ausstellung über die Freiheit und eine Ausstellung über das Glück.
Der Mensch ist ein Verlangen nach dem Unendlichen. Das zeigt sich in seinen personalen Grundbedürfnissen. Zum Beispiel dem Bedürfnis nach Freiheit und in dem Bedürfnis nach Glück.
Ein Gespräch über die Freiheit
1. Wir teilen mit allen die Forderung nach Freiheit
«Ein Gut, drin Ruhe erlangt des Herzens Schlagen, / Ahnt jeder Mensch in seinem dunklen Drange / Und sehnt sich sein und hofft es zu erjagen.» Das dichterische Genie Dantes stellt uns die Evidenz einer Wirklichkeit vor Augen, die ein jeder von uns mit allen Menschen teilt.
«Jeder Mensch [alle, wenn auch auf verwirrte Weise oder aber durch immer neue Ver-suche] ahnet ein Gut [er sucht und tastet nach einem Gut, durch das der Schrei seines Herzens, sein Wunsch nach Glück erfüllt wird] drin Ruhe erlangt des Herzens Schlagen [der Mensch ist Sehnsucht nach Glück]: Und sehnt sich sein und hofft es zu erjagen [ein jeder ist auf dieses Gut hin ausgespannt].»
«“Der Mensch sucht das Glück”, sagt die Bibel. “Der Mensch sucht das Glück”, die Er-füllung einer intensiven und glücklichen Ernsthaftigkeit. …Mit welcher Methode ergreift uns der Herr und drängt uns auf unsere Bestimmung also zu sich, hin? Dies geschieht vor allem durch die Sehnsucht: Die Sehnsucht nach Glück, die Sehnsucht nach Erfüllung, die Sehnsucht nach einer Antwort auf den Ruf des Her-zens… Nicht nur, dass Gott sich in diesen Empfindungen zeigt, sondern gerade in diesen Empfindungen liegt Seine Antwort, Seine Gegenwart, die einen sagen lässt: “Es ist wirklich so! Diese Aussage ist wagemutig, aber sie ist eine Einladung, auf unsere Erfahrung zu schauen, und zwar ausgehend von jener unerschöpflichen Positivität, auf Grund derer ein Mensch, wenn er «Ich» sagt, nicht anders kann, als von der Evidenz eines Wunsches auszugehen, einer Sehnsucht nach vollkommener Befriedigung. Das Unendliche, der, der mich vollkommen erfüllt, das Sein als vollendetes Glück, zieht mich durch die Sehnsucht an sich. Er ist als Anziehungskraft für mein Herz ge-genwärtig. Und er ruft in mir immer neu den Durst nach Glück hervor. Er richtet in dir die Forderung nach Gerechtigkeit, nach Wahrheit und Liebe auf. Der Gegenstand mei-ner Freiheit ist diese Anziehungskraft, diese siegreiche Anziehungskraft, delectatio victrix, wie sie der heilige Augustinus nennt. Wir teilen diese Erfahrung mit jedem Menschen. …
2. Das Rätsel der Freiheit, die unterwegs ist
Ich komme nun zum zweiten Schritt. … Wir teilen mit allen das Verlangen nach Frei-heit. Aber dieses Verlangen wird auf dem Weg des Lebens, mit den Erfahrungen der Grenzen und Widersprüche zugleich zu einem rätselhaften Faktor. «Bei der Suche nach einer Antwort, die die Freiheit, Güte oder Gerechtigkeit nicht ein-fach übergeht, stößt der Mensch jedoch stets an eine Grenze, an seine eigene, na-türliche Grenze. In der Folge wird ihm alles zur Last, niemand scheint ihm in der Lage, das Leben zu bejahen, ohne dabei zugleich Unrecht zu verüben und Widerspruch hervorzurufen». So trägt diese scheinbare Unmöglichkeit etwas Rätselhaftes in unser Leben hinein. Sie führt in viele Augenblicke unseres Tages das Wort “vielleicht” ein. Diese Rätselhaftig-keit wird zur Enttäuschung oder Klage. Sie raubt uns aber nicht unsere Freiheit. Ich möchte darauf hinweisen, wie diese Rätselhaftigkeit außerhalb des Christentums gelöst wird: Man eliminiert sie, man versucht die Freiheit auszuschalten, indem man eine vorherbestimmte Idee des Guten oder eine vorherbestimmte Idee des Bösen sucht. Dies ist die Rückkehr zum Manichäismus: es besteht aus einer Idee (nicht einer Erfahrung!) des Guten, und vor allem aus der Auffassung der Unerbittlichkeit des Negativen und Bösen.
Der russische Schriftsteller Grossmann bemerkt in einem Abschnitt von Leben und Schicksal: «Die größte Veränderung an den Menschen bestand darin, dass ihr Gefühl für die eigene besondere Natur und Persönlichkeit immer schwächer, das Gefühl für das Schicksalhafte dagegen immer stärker wurde. [ … ] Der Wunsch nach Glück war vergangen; an seine Stelle jedoch waren viele andere kleine Träume getreten».
3. Die Angst vor der Freiheit als Folge der Erbsünde
Man muss aber sagen - und damit kommen wir zum dritten Punkt -, dass sich auch in der Freiheit selbst so etwas wie ein Gift findet. Denn wie ist es möglich, dass die Frei-heit von der Verheißung gedrängt wird, aber angesichts der Erfahrung der Grenzen und der Widersprüchlichkeit halt macht und sich für das Nein entscheidet? Ja, dass sie sogar Angst vor sich selbst bekommt?
Ich trage eine Verwundung in mir. …Zurückweisung der eigenen Freiheit, Angst vor der eigenen Freiheit. … Der Freiheit gelingt es nicht, sie selbst zu sein. «Es ist ein unerklärlicher Widerspruch. ( … ) Kaum das sich die Freiheit regt, gewahrt sie einen Feind an ihrer Wurzel: Die Freiheit beherbergt einen Feind in ihrem Haus. Sie trägt einen Feind in ihrem Fleisch und Blut. Der Widerspruch liegt gerade in der Freiheit: Es ist die Erbsünde. Wenn man von “Erbsünde” spricht, so ist es einerseits eine Erklärung, andererseits aber nicht. Es ist keine Erklärung, die alles klärt (man kann nicht die Form der Ursünde beschreiben) und dennoch ist es keine Lüge. Es ist etwas, das geschehen ist und verletzt hat.
Wie können wir die Sünde zusammenfassend beschreiben? Der Mensch ist für das Glück geschaffen, und dennoch sucht er den Tod. Die Freiheit des Menschen versucht das Offensichtliche zu negieren, nämlich dass sie für das Glück gemacht ist. Es ist der Stolz: Der Stolz hat das Böse in die Welt gebracht. Es ist die Behauptung seiner selbst noch vor der Bejahung der Wirklichkeit. Dieser Stolz ist eine Verirrung. Gewiss, die Taufe hebt die Erbsünde auf, aber nicht ihre Folgen. Etwas von dieser «Krummsichtigkeit» bleibt in uns. Wir sind nicht vollkommen blind, aber «wir sehen schlecht», wie jemand, dem es schwer fällt, sich dem Offensichtlichen zu ergeben und mit Klarheit die Einzelheiten, die Farben und Formen zu erfassen. Was aber ist geschwächt? Das Bewusstsein, der Geschmack an der Wahrheit. Denn dieser Stolz wird zur oder zum Leichtsinn, zur Schwäche in der Zuneigung, zur Empfindungslosigkeit oder, um es mit dem bekannten Ausdruck zu bezeichnen: Es tritt der «Tschernobyl-Effekt» ein. Das heißt die Zuneigung ist bei uns allen etwas gedämpft, erschlafft.
Und selbstverständlich nutzt die Macht diese “innere Verkrümmung”, diese Verirrung, die uns unsere Zuneigung dämpft und uns “krummsichtig” werden lässt, aus, ja sie be-fördert dies und unterstützt es nach Kräften. Der Versuch der Macht besteht genau da-rin, «die Sehnsucht zu verkürzen und zu ersticken, ja sogar ihre Quelle auszutrocknen», indem sie die Wünsche reduziert und die Verwirrung steigert. Wenn mein Bewusstsein geschwächt und meine Zuneigung gedämpft ist, was bleibt dann noch? Allein die Reaktion, die Reaktivität und damit eine andere Form der Gewalt.
Wer bestreitet, dass wir diese Verletzung in uns tragen (und dies tut der größte Teil der Menschen) wer also bestreitet, dass die Möglichkeit zum Krieg in uns selbst beginnt, dass die Möglichkeit der Unordnung in mir beginnt, nämlich auf Grund dieser Verlet-zung, der muss die Wirklichkeit in gute und schlechte unterscheiden. Dies entbindet zugleich von der Verantwortung, sich die Freiheit zurückzuerobern - ja es nimmt einem die Möglichkeit dazu.
Der französische Intellektuelle Alain Finkielkraut hat bei seinem Vortrag im Mailänder Kulturzentrum festgestellt: «Eine Ideologie tendiert immer gleich dazu, die Menschen in zwei Kategorien einzuteilen: einerseits diejenigen, die agieren und somit für ihr Tun verantwortlich sind und auch belangt werden können, und andererseits diejenigen, die nur reagieren, so dass die Ursache ihres Handelns stets von ihnen getrennt bleibt und sie somit prinzipiell unschuldig sind»”: Das Böse ist damit stets woanders, das Böse ist stets beim anderen, der Feind ist stets außerhalb. Damit wird die Freiheit als Verantwortung, als Antwort, als Möglichkeit des Aufbruchs und eines Neuanfangs zerstört. Radikaler gesagt, bedeutet dies: Die Möglichkeit zu lieben wird zerstört.
Der französische Philosoph Albert Camus stellt fest: «Männer wissen nie, wie die Liebe sein muss. Nichts befriedigt sie. Sie vermögen nichts anderes, als zu träumen, neue Aufgaben zu ersinnen, neue Länder und neue Heimstätten zu suchen. Wir hingegen wissen, dass wir uns beeilen müssen, zu lieben Wer richtig liebt, hängt kei-nen Träumen nach.»"
4. Um frei zu sein, muss man sich der Bestimmung bewusst sein. Denn die Freiheit besteht darin, die Bestimmung zu lieben.
Wie ist es aber möglich, wenn ich so zerbrechlich bin und so sehr von dieser Verwun-dung gezeichnet bin, ein klares Bewusstsein zu erlangen und eine Energie der Zunei-gung für meine Bestimmung zu besitzen? Wie ist es mir möglich zu lieben? «Solange das Objekt im Dunkeln liegt, kann man sich einbilden was man will und die Beziehung zum Objekt nach eigenem Gutdünken bestimmen. Erst wenn die Be-stimmung klar wird, ist man “gezwungen”: Man ist frei, wenn man gezwungen ist. Man ist aber nicht im dynamischen Sinne gezwungen, sondern in dem Sinne, dass sich eine Klarheit auftut, eine angemessene affektive Energie (So wie wenn man sich verliebt: Es gibt ein Faktum, das dich bindet, ein Faktum, dass dich unvorhergesehen, plötzlich ergreift. Noch vor einem Augenblick schien es völlig unwahrscheinlich, allerdings nicht unmöglich). Und dies ist die Erlösung, die uns Jesus gebracht hat. Die Tatsache, dass das Geheimnis sich enthüllen und zu einer Gegenwart werden sollte, die die Zuneigung anzieht, war in keiner Weise in dem beschlossen, was der Mensch war. [ … ] Deshalb ist es eine Gnade, es war eine Gnade. Jesus hat sie gebracht. In der Tat ist Jesus selbst die Gnade. Die Gnade ist kein “Gegenstand”. Die Gnade ist eine Gegenwart, ja es ist Jesus, insofern er sich erkennen lässt.»
Der heilige Augustinus stellt fest: «Das Leben selbst hat sich im Fleische gezeigt, da-mit das, was nur das Herz sehen kann, auch von den Augen erfasst werden konnte, um auf diese Weise das Herz zu heilen.»
Die Evidenz dieser Außergewöhnlichkeit offenbart sich im Augenblick. Du kannst die-ser Evidenz zustimmen oder dich ihr im Augenblick verschließen. Die Zeit offenbart dann, ob die Freiheit ihr zugestimmt oder sich ihr gegenüber verschlossen hat. Alles hängt von der Haltung in diesem Augenblick ab, von meiner Freiheit: Die Offenheit, die Neugierde, die Erwartung - so wie die eines Kindes angesichts der Dinge -, oder aber das sich Verschließen, der Beginn der Entfremdung. Wenn es sich aber um ein sich Verschließen handelt, dann kommt es zu jener eigentlich unerhörten Sache, auf Grund derer sich der Mensch zum Richter über Gott erhebt. Darin besteht die eigentliche Katastrophe, die Tragödie, die Jesu getroffen hat. …
Du kannst gegenüber Jesus, gegenüber der Evidenz dieses Gutes, dieser Gegenwart, die dich «Freund» nennt, so wie sie Judas «Freund» nannte, «Nein» sagen. Oder du kannst jenes «Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe», des Petrus flüstern, so wie er es an jenem Morgen sagte - jenem Morgen, der für uns zu diesem Morgen des Lebens wird.
Dies ist die Haltung zu Beginn eines jeden Tages. Wie oft blicken wir am Morgen auf den Tag als Teil eines Abenteuers der Sehnsucht nach dem Glück und dem Guten? Wie oft reduzieren wir die Wahrnehmung der Dinge auf eine Bequemlichkeit und identifizieren diese Bequemlichkeit dann mit der Lust und der Instinktivität, anstatt der größe-ren Attraktivität` zu folgen, indem wir versuchen, sie uns klar vor Augen zu halten? Es ist ein Kampf. Das Leben ist ein Kampf. Es ist kein verlorener Krieg, sondern ein Kampf, …
5. Die Notwendigkeit einer Erziehung
Deshalb ist eine Erziehung notwendig, die der Größe und Tiefe der Auseinandersetzung unter den Menschen entspricht und des Kampfes in unserem Leben: Entweder wir verstehen uns frei vom ganzen Universum und abhängig nur von Gott, oder aber frei von Gott - und damit werden wir zu Sklaven jedes beliebigen Umstandes. Worte des heiligen Ambrosius? »Seht wie vielen Herren jene dienen, die nicht den einen Herren anerkennen!»"
Die Bedingungen der Auseinandersetzung, der immer neuen Zustimmung, d.h. der Antwort auf die sieghafte Anziehungskraft, ist gewiss ein Opfer. Man muss den Schein aufgeben; es ist eine Abtötung, die das Kreuz bedeutet. Aber es ist die Voraussetzung der Auferstehung, des Sieges, der dieser Neuheit Bestand gibt.
Der Abt fragt Miguel Mafiara in dem gleichnamigen Theaterstück: «Weshalb fürchtest du ihn [den Schmerz] zu verlieren, der dich zu finden wusste? Die Busse [das Opfer] ist nicht Schmerz. Sie ist Liebe.» Eben deshalb ist die Forderung nach einer Erziehung, also nach einer Wirklichkeit, die uns hilft, in die Tiefe der Wirklichkeit mit all ihren Faktoren einzudringen, kein Schmerz, sondern eine Liebe.
Luigi Giussani